Normalerweise leben Kraken entweder im offenen Meer oder am Meeresboden. Doch der erst vor relativ kurzer Zeit entdeckte Dumbo-Oktopus Cirrotheutis muelleri vereint beide Welten, wie Wissenschaftler jetzt beobachtet haben. Demnach treibt der Kopffüßer zwar die meiste Zeit im freien Wasser des Ozeans, um dort Schutz vor bodennahen Raubtieren zu suchen, schießt zum Fressen aber kurzzeitig auf den Meeresboden der Tiefsee hinab. Bisher war dieses Verhalten nur von bestimmten Fischen und Seegurken bekannt.
In den Ozeanen findet jede Nacht eine der größten Tierwanderungen der Welt statt. Fische, Zooplankton und andere Lebewesen, die sich tagsüber in der Tiefe vor Räubern versteckt gehalten haben, steigen dann zur Oberfläche auf und gehen dort selbst auf die Jagd. Doch längst nicht alle Meeresbewohner beteiligen sich an dem Treiben. Bei Kopffüßern wie Kraken war bislang zum Beispiel kein solches Wanderverhalten beobachtet worden.
Picknick in der Tiefe
Das könnte allerdings auch damit zusammenhängen, dass bisher niemand genau genug hinschauen konnte. Denn erst jetzt haben Forschende um Alexey Golikov vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel allerhand Videomaterial von einer bislang wenig erforschten Krakenart gesammelt. Die Videoaufnahmen stammen aus der Arktis und wurden dort von ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen und geschleppten In-situ-Beobachtungssystemen aufgezeichnet. Auf den Videos ist der „Dumbo“-Oktopus Cirrotheutis muelleri zu sehen. Die ersten Vertreter dieser durch große Seitenlappen am Kopf auffallenden Krakengruppe wurden erst vor wenigen Jahren in der Tiefsee entdeckt. Sie gehören zu den am tiefsten lebenden Oktopussen überhaupt. Ihre acht Arme sind über eine dünne Haut miteinander verbunden und erinnern an einen bräunlich-rötlichen Schirm.
„Die meisten bisherigen Beobachtungen berichten von Individuen in der Nähe des Meeresbodens“, so Golikov und seine Kollegen. „Doch wir sahen die Tiere auch wiederholt 500 bis 2600 Meter über dem Meeresboden.“ Das Team konnte beobachten, dass Cirrotheutis nur zur Nahrungssuche in die Tiefe hinabsank, sich sonst aber in der darüberliegenden Freiwasserzone aufhielt. Damit ist der Dumbo-Oktopus der erste Kopffüßer mit nachgewiesenem vertikalem Wanderverhalten. Er ist dabei aber eine Art „Geistertaucher“, denn er wandert in die entgegensetzte Richtung wie die meisten Fische und anderen Meeresbewohner. Während sie zum Fressen aufsteigen, genießt Cirrotheutis sein Picknick in der Tiefe. Bisher war diese umgedrehte Wanderung nur von bestimmten Fischen und Seegurken bekannt, so Golikovs Team.
Wanderung vereint das Beste beider Welten
Je nachdem, in welcher Gewässertiefe sich die Dumbo-Oktopusse aufhielten, änderte sich auch ihr Verhalten, wie das Forschungsteam berichtet. Im freien Wasser verhalten sich die Cirroteuthis demnach äußerst ruhig. Nahezu bewegungslos treiben sie dort mit „geöffnetem Schirm“ und schlagen nur hin und wieder mit den kurzen Flossen, vermutlich um die Höhe zu halten oder zu verändern, so die Forschenden. Laut Golikov ist diese Art der Fortbewegung sehr energieeffizient und gleichzeitig unauffällig, sodass die Oktopusse nicht unnötig die Aufmerksamkeit von Räubern auf sich ziehen.
Videoaufnahmen, die die Tiere bei der Futtersuche in der Tiefe zeigen, offenbaren hingegen ein komplett anderes Verhalten. „Mit ihren flügelähnlichen Flossen schwimmen sie langsam über den Meeresboden, landen plötzlich, umschließen ihre Nahrung und heben heftig flatternd mit ihrer Mahlzeit wieder ab“, beschreibt Golikov. Im Sediment des Meeresbodens finden sich zahlreiche charakteristische Abdrücke, die die Forschenden als Spuren dieser Landung und des Einhüllens der Beute interpretieren. Insgesamt dauerten die Besuche am Meeresboden-Buffet allerdings nie länger als zweieinhalb Minuten.
Für Golikov und sein Team ist dieses Verhalten ein eindeutiger Hinweis darauf, dass Cirroteuthis mit seiner Wanderbewegung sozusagen das Beste aus beiden Welten vereint. Er bedient sich am reichhaltigen Nahrungsangebot des Meeresbodens, wo er unter anderem Krebstiere und Ringelwürmer erbeutet. Gleichzeitig schützt er sich aber auch vor den großen Räubern der Tiefe wie Grönlandhaien und Grindwalen, indem er schnell wieder in höhergelegene Wasserschichten auftaucht. Dabei rettet Cirroteuthis aber nicht nur seine eigene Haut, sondern schafft außerdem eine Verbindung zwischen den oberen Wasserschichten und dem Meeresboden. Golikov und seine Kollegen vermuten, dass er auf diese Weise zur Umwälzung von Nährstoffen beiträgt.
Quelle: GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel; Fachartikel: Proceedings of the Royal Society B, doi: 10.1098/rspb.2023.0640