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Ein Herz für Tiere

Erde|Umwelt

Ein Herz für Tiere
Nicht nur Menschen adoptieren Kinder. Auch Tiere kümmern sich um den Nachwuchs von anderen.

September 2011, 20 Kilometer vor dem Azorenarchipel. Langsam lassen sich Jens Krause und Alexander Wilson im Taucheranzug ins Wasser sinken. In unmittelbarer Nähe zieht melodisch flötend eine Gruppe Pottwale durchs Meer. Zehn Tage lang leisten die beiden Forscher vom Berliner Leibniz- Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei der Walsippe Gesellschaft. Der Grund: In ihrer Mitte schwimmt ein missgebildeter Delfin mit ausgeprägtem Buckel. Offenbar haben die Wale das fremde Tier adoptiert. Sie behandeln es wie eines ihrer Jungtiere.

Immer wieder berührt der Delfin – ein Großer Tümmler – die Wale beim Schwimmen und streichelt sie mit seinen Flossen. Auch die Wale liebkosen den Fremdling. Manchmal schwimmt der Delfin sogar direkt vor das Maul eines ausgewachsenen Pottwalweibchens, wie es sonst nur die Jungen tun. „Pottwale wurden noch nie zuvor in freundlicher Interaktion mit einer anderen Art beobachtet”, sagt Wilson. „Es ist ein ganz besonderes Gefühl, mit diesen zauberhaften Tieren zu schwimmen.”

Die Forscher vermuten, dass sich der Delfin wegen seines Buckels der Walgruppe angeschlossen hat. Möglicherweise konnte er nicht mit seinen Artgenossen mithalten oder wurde von ihnen gequält, spekulieren Krause und Wilson. Auch den Grund, warum die Wale den Delfin in ihre Gruppe aufgenommen hatten, kennen die Verhaltensforscher nicht. Vielleicht lag es daran, dass er eine ähnliche Größe wie ein Walkalb hatte.

Zum Fressen gern

Tierische Adoptionen werden immer wieder beobachtet. 2002 etwa fiel Wildhütern im kenianischen Massai-Mara-Nationalpark ein Löwenweibchen auf. Es nahm ein Antilopenjunges in seine Obhut, nachdem es dessen Mutter vertrieben hatte. Die Löwin und ihr Schützling wichen einander tagelang nicht von der Seite. Doch da Antilopen zur Beute dieser Raubkatzen gehören, kam es, wie es kommen musste: Andere Löwen fraßen den Pflegling auf. Daraufhin adoptierte die Löwin ein weiteres Antilopenbaby, was ebenfalls ein tragisches Ende nahm. Trotzdem suchte sie sich unverdrossen ein drittes Adoptivkind …

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Lange glaubten Forscher, dass nur sozial lebende Arten den Nachwuchs anderer adoptieren. Doch der Ökologe Andrew McAdam von der kanadischen Universität Guelph beobachtete, dass auch Eichhörnchen manchmal verwaiste Jungtiere aufnehmen, vor allem, wenn es sich um Geschwister, Cousins oder Cousinen handelt. Sie erkennen die Blutsverwandten an vertrauten Rufen, glaubt McAdam. Unter den Haustieren sind Hunde die besten Zieheltern. Sie nehmen bisweilen sogar artfremde Tiere wie Katzen, Igel und Kaninchen unter ihre Obhut.

Der Zoologe Brian Wisenden von der Minnesota State University beobachtet seit den 1990er-Jahren Grünflossenbuntbarsche in Costa Rica. Die Fische leben monogam und betreiben intensive Brutpflege. Sie bauen ihren Kleinen ein Nest und halten Feinde von der Behausung fern. „In Freilandstudien haben wir das Erbgut von 50 Nestern untersucht”, berichtet Wisenden. „Ganze 87 Prozent enthielten nichtleibliche Brut.” Adoption ist also kein Unfall, sondern das dominante Fortpflanzungsverhalten bei Grünflossenbuntbarschen. Die adoptierten Fische sind dabei nicht einmal mit den Zieheltern verwandt.

„Eigentlich sollten Adoptionen nichtverwandter Tiere in der Natur nicht vorkommen, weil dadurch Zeit und Energie in fremde Gene gesteckt und damit Konkurrenten zu einem Vorteil verholfen wird”, sagt Wisenden. Solch ein Altruismus widerspricht der Darwin’schen Evolutionstheorie fundamental. Warum gibt es trotzdem Arten, die nichtverwandten Nachwuchs großziehen?

Fest steht: Die Adoptivkinder machen kaum zusätzlich Arbeit. „ Ob man als Barsch 102 oder 120 Jungtiere großzieht, kommt aufs Gleiche raus”, meint Wisenden. Denn die Jungtiere fischen ihr Futter selbst aus dem Wasser. Sie müssen weder gesäugt werden, noch müssen die Pflegeeltern Nahrung für sie heranschaffen. Bei Säugetieren und Vögeln hingegen bedeutet jeder zusätzliche Spross mehr Muttermilch oder Futter.

Die Kosten einer Adoption sind bei Grünflossenbuntbarschen also vernachlässigbar gering. Und sie birgt sogar einen evolutionären Vorteil: Wisenden beobachtete, dass die Fische vor allem Junge aufnehmen, die kleiner oder genauso groß sind wie der eigene Nachwuchs. Andere Anwärter verjagten oder fraßen sie. Der Grund: Die natürlichen Feinde der kleinen Barsche schnappen bevorzugt das kleinste Tier aus dem Nest, weil es am langsamsten ist. Offenbar „opfern” die Fische nichtleibliche Kinder zugunsten der eigenen.

Allerdings beachten die Zieheltern nur solange die Größe der Neulinge, bis ihre eigenen Kinder rund 7,5 Zentimeter erreicht haben. Dann schwimmt der Nachwuchs genauso gut wie die ausgewachsenen Tiere, weil sich das Knorpelskelett voll ausgebildet hat. Nun nehmen die Eltern wahllos kleinere und größere Jungtiere auf. Der „Verdünnungseffekt” im Nest bleibt dadurch bestehen, aber die fremden Kinder dienen nicht mehr als lebendige Schutzschilde.

Eine echte Patchworkfamilie

Eine ganz ähnliche Familienkultur pflegt der afrikanische Buntbarsch Neolamprologus caudopunctatus im tansanianischen Tanganjikasee. Die Eltern bauen kleine schützende Nesthöhlen am Seegrund in rund zwölf Metern Tiefe. Aus 30 Nestern sammelte Zoologin Franziska Lemmel-Schädelin vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Veterinärmedizinischen Universität Wien DNA-Material.

Die meisten Nester enthielten fremdes Laichgelege oder fremde Jungtiere. In einigen tummelte sich sogar der Nachwuchs von mehr als drei Eltern – eine echte Patchworkfamilie. „Wenn der Nachwuchs auch in fremden Nestern groß wird, erhöht das bei allen Jungtieren die Wahrscheinlichkeit zu überleben”, schreibt Lemmel-Schädelin in der Veröffentlichung der Studie im Journal of Behavioural Ecology 2013.

Somit ist ebenso wie bei den Barschen in Costa Rica auch in Tansania der Verdünnungseffekt das wichtigste Motiv für die Adoption. Und auch in dem ostafrikanischen Binnengewässer wählten die Zieheltern die Adoptivkinder penibel nach der Größe aus. Diese waren in etwa gleich groß wie der eigene Nachwuchs.

Die Räuber bevorzugen zwar auch dort die kleinen Tiere, sodass die Adoptivkinder nicht direkt Gefahr laufen, als Erste gefressen zu werden. Aber die leiblichen Kinder sind immerhin über den Verdünnungseffekt geschützt. Nur weshalb geben Eltern ihre Kinder zur Adoption frei?

„Diese Frage hat mich viele Jahre umgetrieben”, sagt Wisenden, aber er hat bis heute keine lehrbuchreife Antwort darauf gefunden. Immerhin sind einige seiner Experimente sehr aufschlussreich: Manchmal lässt der Vater die Grünflossenbuntbarsch-Familie im Stich. Und Die Mutter kann das Nest dann nicht mehr gut gegen Angreifer verteidigen. Die Halbwaisen wandern dann oft in benachbarte Nester aus. Auch wenn ein Nest einem heftigen Angriff ausgesetzt war, suchen die überlebenden Jungtiere bei anderen Familien Zuflucht.

Sichere Reise im Maul

Wisenden zeigte in Laborversuchen, dass die Barsche ihr eigenes Nest am Geruch erkennen. Doch wenn er den Vater aus dem Aquarium nahm und die Jungtiere vor die Wahl stellte, zur eigenen Mutter oder zu einer anderen Mutter zu schwimmen, hatten die Tiere keinerlei Präferenz. Dieser spektakuläre Befund wurde vor Kurzem veröffentlicht.

Lemmel-Schädelin und Richard Wagner sind allerdings davon überzeugt, dass die Eltern, die ihre Kinder fortgeben, auch ein Eigeninteresse haben. Bemerkenswert ist, dass die adoptierten Kinder teils in 40 Meter weit entfernten Nestern Unterschlupf fanden. Wie kann ein wenige Zentimeter großer Fisch derartige Distanzen überwinden, wunderte sich Wagner. „Das ist, als würde ein zwei Jahre altes Kind durch Berlin laufen, und es passiert ihm nichts.” Er kann sich die große Entfernung nur damit erklären, dass die Eltern ihre Jungtiere im Maul transportieren. Und das hieße: Sie selbst entscheiden, welche Kinder außer Haus aufwachsen.

Dass die Eltern in dieser Frage mitmischen, legt auch ein anderer Befund nahe: Vor allem die großen Jungtiere eines Nests wachsen bei fremden Eltern auf. Auch sie können zwar bei den neuen Zieheltern das erste Opfer eines Raubfischangriffs werden, aber ihre Überlebenschancen sind auf jeden Fall größer, als es die ihrer kleineren Geschwister wären.

Adoptionen im Tierreich lassen sich kaum gezielt erforschen. Oft verdankt man das Wissen darüber reinem Zufall. So wollte Richard Wagner eigentlich außereheliche Paarungen bei schwarzfüßigen Dreizehenmöwen beobachten, die an den Steilküsten Nordeuropas leben. Doch die 82 Vogelpärchen waren hoffnungslos treu, Seitensprünge gab es nicht. Dafür entdeckte Wagner, dass jedes achte Küken in den Nestern von fremden Eltern stammte.

Flucht vor dem Hungertod

Die Jungvögel hatten eigenständig ihr Zuhause gewechselt. Denn die Eltern füttern oft das jüngste Küken nicht mehr, wenn es zu wenig Nahrung gibt. Es wird sozusagen zugunsten der anderen Kinder geopfert. Doch die Allerkleinsten versuchen sich bisweilen zu retten, indem sie in ein benachbartes Nest springen. Und die Eltern dort erbarmen sich offensichtlich der Flüchtlinge. „ Allerdings endet die Flucht oft dramatisch”, sagt Wagner. Denn viele Tiere stürzen bei dem waghalsigen Manöver ins Meer und ertrinken. Unklar ist, weshalb die Nachbarn die Kleinen aufnehmen und durchfüttern.

Auch Schimpansen sorgen für Überraschungen. Die Primatenforscher um Christophe Boesch vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie staunten, als sie im Laufe zweier Jahrzehnte im Tai-Nationalpark an der Elfenbeinküste in 3 Schimpansengruppen insgesamt 20 Adoptionen von verwaisten Jungtieren zählten. Meist waren die Zieheltern und das Adoptivkind nicht einmal miteinander verwandt.

Väter wie Mütter tragen die Jungen auf dem Rücken herum. Und die Eltern beißen für sie Früchte wie die sehr harte Psylla evansii auf und füttern sie damit. Wenn die Affen den Wald durchqueren, wartet das erwachsene Tier stets auf den Schützling. Jahrelang sorgen sie so für die Kinder und verteidigen diese bei einem Angriff.

Erstaunlicherweise übernahmen bei der Hälfte der Adoptionen die Väter die elterliche Fürsorge – eine Rolle, die sonst gewöhnlich den Schimpansenfrauen zufällt. „Das Männchen verändert von einen Tag auf den anderen drastisch sein Verhalten. Es schlüpft in die Mutterrolle”, berichtet Boeschs Mitarbeiter Tobias Deschner. „Das ist kein genetisches Programm, das angeworfen wird. Die Tiere versetzen sich in die Lage der verwaisten Jungen und reagieren darauf, dass diese in Not sind. Darin sind sie dem Menschen sehr ähnlich”, sagt er. Es handelt sich sozusagen um Adoption aus Empathie.

Leoparden sorgen für Solidarität

Im Zoo ist solch fürsorgliches Verhalten unter Schimpansen noch nie beobachtet worden – und auch nicht bei Schimpansenpopulationen außerhalb des Tai- Nationalparks. Boesch vermutet, dass Leoparden, die im Tai-Nationalpark leben und mitunter Schimpansenjunge reißen, den solidarischen Zusammenhalt unter den Tieren stärken und die Adoptionen befördern.

„Vielleicht ist das aber auch eine Frage der Kultur”, wendet Deschner ein. Denn nur die Schimpansensippe im Osten des Parks adoptiert auffallend häufig und auch nur dort schlüpfen oft männliche Tiere in die Vaterrolle. „Es könnte sein, dass die Jungtiere dieses Verhalten beobachten, erlernen und später selbst praktizieren”, meint Deschner.

Adoptionen unter Tieren geben nach wie vor Rätsel auf und das Feld für Hypothesen ist weit. Wagner vertritt eine besonders kühne These: „So wie Madonna und Angelina Jolie an Prestige gewinnen, wenn sie afrikanische Kinder adoptieren, könnte das auch bei Tieren der Fall sein. Die Zieheltern werden mehr beachtet und haben einen Überlebensvorteil. In Wahrheit wären sie also gar nicht altruistisch.” Belege für ein solches Promigehabe gibt es allerdings nicht. •

von Susanne Donner

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