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Dünnes Eis für dicke Kinder

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Dünnes Eis für dicke Kinder
Die Kinder in Deutschland werden immer dicker. Das ist zwar eine Tatsache, doch das Ausmaß des Problems wird nach Ansicht von Forschern meist übertrieben dargestellt. Es gibt zwar nur wenige verlässliche Daten. Die verfügbaren zeichnen jedoch ein weniger dramatisches Bild: Übergewicht ist lange nicht so verbreitet wie vermutet, und die Folgen für die Gesundheit im späteren Leben können aufgrund der Datenlage auch nur begrenzt abgeschätzt werden.

“Jedes dritte Kind ist übergewichtig”, “übergewichtige Kinder sind die Diabetiker und Diabetikerinnen und Herzinfarktopfer von morgen”, “Folgekosten von falscher Ernährung liegen bei zig Milliarden Euro jährlich” – beim Thema moppelige Kinder überbieten sich Medien, Politiker und Gesundheitsexperten gerne gegenseitig mit Superlativen, die ein düsteres Bild der Zukunft eben dieser Kinder malen. Doch nicht jeder teilt diese Schreckensvision: “Die kursierenden Zahlen sind spekulativ und maßlos überzogen”, ist etwa Michael Zwick, Soziologe von der Universität Stuttgart, überzeugt.

“Es gibt zwar eine Zunahme von kindlichem Übergewicht, doch nicht in dem Maße, wie das immer wieder behauptet wird”, lautet seine Einschätzung der Situation. Eines der Probleme: Fakten sind Mangelware. Schon der Vergleich verschiedener Länder oder neuer und alter Daten ist schwierig bis unmöglich, schreibt das Magazin “bild der wissenschaft” in seiner Februarausgabe. Es gibt keine Standards, keine einheitlichen Richtlinien – in einigen Erhebungen werden Kinder zum Beispiel mit, in anderen ohne Kleider auf die Waage gestellt – und auch die Datenerhebung lässt vielfach zu wünschen übrig. Nicht selten werden nämlich einfach die Eltern zum Gewicht ihres Sprösslings befragt, und diese Angaben sind sehr fehleranfällig.

Verlässlicher sind da schon die Zahlen der KiGGs-Studie, einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus den Jahren 2003 bis 2006 mit mehr als 14.000 Teilnehmern. Deren Daten zeigen: Nicht jedes dritte Kind, wie vielfach behauptet, sondern lediglich jedes sechste bis siebte ist übergewichtig, und nur 6 Prozent werden als fettsüchtig eingestuft. Und noch etwas illustriert die Studie: Man kann nicht einfach alle Kinder über einen Kamm scheren. Kinder aus Migrantenfamilien und Kinder mit einem sozial problematischen oder finanziell schwachen Hintergrund sind deutlich stärker betroffen als Mittelschichtkinder oder der Nachwuchs begüterter Eltern.

Auch der Wohnort scheint eine Rolle zu spielen: In den verschiedenen Bundesländern wurden zum Teil deutlich voneinander abweichende Zahlen und unterschiedliche Trends registriert. So nahmen die Kinder in Bayern, Niedersachen und Brandenburg bis etwa ins Jahr 2000 stetig zu – seitdem lässt sich jedoch kein weiterer Anstieg beim kindlichen Übergewicht feststellen. Ausgenommen ist hier allerdings der Anteil stark übergewichtiger, also adipöser oder fettsüchtiger Kinder. Er stieg zum Beispiel bei niedersächsischen Mädchen in nur zehn Jahren von drei auf fünf Prozent.

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Doch was bedeutet das konkret für das spätere Leben dieser Kinder? Sind sie unweigerlich dazu verdammt, chronische Stoffwechsel-, Gefäß- und Herzkrankheiten zu entwickeln? Die Antwort lautet: Man weiß es nicht, denn langfristige Studien fehlen. Es ist nicht einmal sicher, dass aus dicken Kindern zwangsläufig übergewichtige Erwachsene werden. “Vor allem bei vor der Pubertät auftretendem Übergewicht ist die Aussagekraft für späteres Übergewicht mangelhaft”, konstatiert etwa Friedrich Schorb vom Bremer Zentrum für Sozialpolitik. Nur ein Beispiel: In einer britischen Studie gaben lediglich 13 Prozent der untersuchten fettleibigen 30-Jährigen an, bereits als 10-Jährige Übergewicht gehabt zu haben. Umgekehrt verliert immerhin knapp ein Drittel der zu dicken Erstklässler die überschüssigen Pfunde schon im Lauf der Grundschulzeit.

Und selbst wenn der Speck bleibt: Ob er krank macht oder nicht, ist ähnlich schwierig vorherzusagen wie sein Schicksal im Lauf der Zeit. Zwar zeigt eine Studie mit 520 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 9 und 20 Jahren aus Ulm, dass sieben Prozent der Fettsüchtigen an einer Vorstufe von Diabetes leiden und die Krankheit bei 1,5 Prozent tatsächlich ausgebrochen ist. Jedoch: “Es handelt sich fast ausnahmslos um Kinder, bei denen bereits Eltern oder Großeltern an einem Typ-2-Diabetes leiden”, erläutert der Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes 2008. Von einer Diabetes-Epidemie kann demnach keine Rede sein.

Ähnlich sieht es mit Herzkrankheiten aus. Auch hier gibt es einige Hinweise, dass das Risiko für übergewichtige Kinder später tatsächlich größer sein könnte – um wie viel und mit welchen Folgen, ist allerdings unklar. Fazit: Wenn schon das effektive Ausmaß der Gesundheitsprobleme derartig spekulativ ist, sollte man alle hochgerechneten Werte wie etwa die Kosten, die Übergewichtige verursachen, äußerst kritisch bewerten, schreibt “bild der wissenschaft”.

Eines sollte bei aller Skepsis allerdings nicht vergessen werden: Es gibt heute tatsächlich mehr übergewichtige Kinder als früher – und diese haben mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen. So kamen Krankheiten wie Diabetes oder andere Stoffwechselstörungen vor 20 Jahren bei Kindern praktisch nicht vor. Zudem gelten dicke Kinder – zu Unrecht – oft als faul, dumm und blöd, sie sind als Spielkameraden meist sehr unbeliebt. Das zerrt an den Nerven und bringt viele bereits in sehr jungem Alter dazu, sich in einen Diätwahn hineinzusteigern. Auch dazu gibt es Zahlen: Heute schon achtet jedes dritte Kind zwischen 11 und 17 Jahren darauf, was es isst – und das geht zu Lasten der Lebensqualität.

Kathrin Burger: “Dicke Kinder, dünne Daten” bild der wissenschaft 2/2009 ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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