Wenn von dem berühmten Jahr 1953 die Rede ist, in dem einer staunenden Menschheit die erstaunliche Struktur des genetischen Materials – die Doppelhelix aus DNA – zum ersten Mal vorgeführt wurde, dann ist unweigerlich zu hören und zu lesen, dass Watson und Crick diese elegante Schraubenform des Lebensfadens entdeckt hätten. Wer mehr wissen möchte, fragt nach, wie die Entdeckung der beiden zustande gekommen war, was sie tun mussten, um zur Doppelhelix vorzustoßen. Wie konnten sie alleine finden und entdecken, was so viele andere zur gleichen Zeit gesucht haben? Was haben ihre Konkurrenten übersehen?
Bei all den Fragen, die man dazu stellt, tauchen nie oder selten Zweifel an der Überzeugung auf, dass man die Doppelhelix wirklich entdecken konnte. Genau so, wie Kolumbus Amerika entdeckt hatte. Niemand wird bestreiten, dass der neue Kontinent, auf den der Seefahrer mit seinen Leuten traf, schon existierte, bevor seine Entdecker in See gestochen waren. Aber gab es die Doppelhelix schon, bevor Watson und Crick sie beschrieben haben?
Keine Schraube in der Zelle
Natürlich gibt es chemische Substanzen, die eine Rolle als Erbmaterial spielen. Und wer in einer Zelle nachschaut und sucht, wird sie finden. Er wird aber auf keine Doppelhelix treffen, wie sie heute in Lehrbüchern und auf vielen bunten T-Shirts zu sehen ist. In einer Zelle begegnet man nicht perfekten Modellen von eleganten Strukturen. Vielmehr findet sich dort ein Gewimmel von Molekülen, die dicht verknäult ein unübersichtliches Chaos von Aktivitäten produzieren, aus dem das Leben hervorgeht und mit dem es in Gang bleibt. Die Doppelhelix kann daher keine Entdeckung sein. Sie kann nur eine Erfindung sein, und deshalb ist es keine Nebensächlichkeit, dass die erste zeichnerische Darstellung der Genstruktur aus der Hand einer Künstlerin stammt, nämlich der Ehefrau von Francis Crick, Odile.
Wer sich schwertut, bei wissenschaftlichen Einsichten von Erfindungen statt von Entdeckungen zu sprechen, nehme einen Satz von Albert Einstein, dem zufolge physikalische Theorien freie Erfindungen von fantasievollen Menschen seien. Für den Fall der Doppelhelix lohnt auch ein Blick in das Buch von James Watson, der dort mehrfach den Weg zur Doppelhelix schildert: Der will nämlich keine weiteren Daten oder Fakten mitgeteilt bekommen. Was man von einem gewissen Punkt an brauche, seien keine neuen Messergebnisse, sondern Ideen, und die könne man nicht entdecken – höchstens in sich selbst.
Chemische Fakten ignoriert
Crick schrieb 1952 in einem Memorandum ähnliches: Man müsse bei der Suche nach der DNA-Struktur versuchen, so wenig Fakten wie möglich zu berücksichtigen, und sich vielmehr bemühen, aus dem, was man weiß, weiterführende und konstruktive Ideen zu entwickeln – zum Beispiel die einer Basenpaarung im Innern einer Doppelhelix. Für die Umsetzung dieser Idee mussten Watson und Crick sogar chemische Fakten aus einem damals verbreiteten Lehrbuch ignorieren, wobei sie nur hoffen konnten, dass die dort versammelten Tatsachen gar keine waren.
Der Unterschied zwischen Watson und Crick und ihren Konkurrenten besteht darin, dass sich das siegreiche Paar mehr auf seine Einfälle verließ. Die bekamen sie allerdings nur mit Hilfe von Daten, die andere mühevoll gesammelt hatten. Im Fall der Doppelhelix bedienten sich Watson und Crick etwa auch bei ihren Kollegen Rosalind Franklin und Maurice Wilkins vom King’s College in London.
Die Doppelhelix, eine Erfindung?
Die anderen hofften, das gesuchte Modell würde unter den empirischen Ergebnissen zu entdecken sein, was aber nicht der Fall war. Mit anderen Worten, die Doppelhelix ist eine Erfindung, und das trifft auch für die Gene selbst zu, die bei Mendel noch Erbelemente hießen. Diese Erbfaktoren konnte der Mönch allein deshalb schon nicht entdecken, weil die Zellen der von ihm untersuchten Erbsen für ihn verschlossen blieben.
Im frühen 20. Jahrhundert ist einmal spekuliert worden, Mendel habe seine Ergebnisse erfunden – also die Daten gefälscht. Selbst wenn er das getan hätte, dann doch nur, weil er vorher die Idee von Genen hatte, die demnach seine Erfindung sind. Denn Mendels tiefe Einsicht lautet, dass man Vererbung versteht, wenn man sie sich als Partikel – als Elemente – vorstellt.