Sie zu definieren, ist nicht schwer: „Kreativität ist die Fähigkeit, Ideen oder Werke in die Welt zu setzen, die neu, überraschend und wertvoll sind.” So hat es die Psychologie-Professorin Margaret A. Boden von der University of Sussex in England formuliert, und die meisten Forscherkollegen stimmen ihr darin zu.
Doch wie lässt sich diese hochgeschätzte Fähigkeit erklären? Kann man den Kuss der Muse wissenschaftlich fassen? Wird nicht doch ein göttlicher Funke übertragen, wie schon die Menschen der Antike glaubten? „Nenne den Mann mir, Muse, den vielgereisten …” – so eröffnete der griechische Dichter Homer um 700 v. Chr. seine Odyssee, ein zweifellos kreatives Werk. Sein Landsmann Hesiod unterschied wenig später bereits neun Musen, die in trauter Arbeitsteilung die kreativen Geister inspirieren: Klio die Geschichtsschreiber, Thalia die Bühnendichter und Urania die Sternkundigen beispielsweise. „Radikale Kreativität”, also die Schöpfung fundamental neuer Dinge, könne auch heute nicht wissenschaftlich erklärt werden, meint der Berliner Philosoph Günter Abel, da sie viel zu spontan auftrete, zu schicksalhaft und kaum vorhersagbar. Kreative Leistungen im Alltag sind da schon leichter zu untersuchen. Forscher haben sich auf den verschiedensten Gebieten auf ihre Spur begeben. Sieben Quellen der menschlichen Kreativität kamen dabei ans Licht.
1. Kreativität kommt aus dem Kopf
Das ist nicht weiter überraschend. Denn dass die guten Einfälle aus dem Bauch kämen, wird zwar immer wieder behauptet, ist jedoch meist sinnbildlich gemeint. Doch wo im Kopf entstehen die kreativen Ideen? Gibt es ein kreatives Zentrum, das Hirnforscher im Kernspin-Tomographen sichtbar machen können?
Andreas Fink, Psychologe an der Universität Graz (und derzeit Vertretungsprofessor in Potsdam), hat es ausprobiert: Er ließ Versuchspersonen Aufgaben aus Kreativitäts-Tests bearbeiten, während ihr Haupt von der dröhnenden Kernspin-Röhre umgeben war. Solche Aufgaben bestehen zum Beispiel darin, dass man sich möglichst viele ungewöhnliche Verwendungsmöglichkeiten für einen Alltagsgegenstand – eine Büroklammer, einen Backstein oder eine Filmdose – ausdenken soll. Und während die Versuchspersonen im Geiste die Büroklammer verbogen oder die Filmdose bepflanzten, machte Fink den Sauerstoffverbrauch in ihrem Hirn sichtbar. Er stellte fest: Stirnhirn und Scheitellappen werden aktiviert und senden Signale hin und her. Blendete der Forscher zur Stimulation des Ideenflusses die originelle Antwort eines anderen Testteilnehmers auf einem Display ein, brachte das die aktiven Teile des Großhirns erst recht auf Touren. Fink ist überzeugt: „ Dasselbe geschieht bei einem Brainstorming in der Gruppe.”
Allerdings war auch der Rest des Hirns nicht faul. „Es gibt kein Kreativitätsareal”, fasst Fink die eigenen Ergebnisse und die seiner Hirnforscher-Kollegen zusammen. „Es ist stets ein Zusammenspiel mehrerer Zentren.” Tiefsitzende Strukturen unterhalb der Hirnrinde sind mit im Spiel und helfen bei der gefühlsmäßigen Bewertung. Wichtiger als der Ort des Geschehens ist die Geschwindigkeit, mit der das Hirn arbeitet, sprich: die Frequenz der elektrischen Erregungen, die sich mit dem EEG sichtbar machen lässt. Aus solchen Untersuchungen weiß man, dass – anders als für konzentriertes Tüfteln, etwa an einer Rechenaufgabe – für das schweifende Ideensammeln eher ein langsamer Hirnrhythmus hilfreich ist: sogenannte Alphawellen von 10 bis 12 Hertz, die man auch beobachten kann, wenn wache Versuchspersonen die Augen schließen. Der Zustand ist mit einem Tagtraum vergleichbar. Doch Psychologe Fink warnt: „Notorische Träumer sind nicht kreativ. Kreative Menschen sind vielmehr in der Lage, rasch zwischen niedriger und hoher Aktivierung hin- und her zu wechseln.” Er hat das in einem Versuch mit erfahrenen Improvisationstänzern bewiesen: Die Künstler dachten sich im EEG- Labor relativ mühelos eine originelle Choreografie aus. Ihr Gehirn produzierte dabei immer wieder ruhige Alphawellen, während bei einer Kontrollgruppe aus Nichttänzern hektische EEG-Kurven die Anstrengung verrieten, die sie die virtuelle Bewegung kostete – ein Hinweis darauf, dass Übung den kreativen Meister macht (siehe Punkt 4).
2. Kreativität kommt aus dem Grips
Auch Tanja Gabriele Baudson ist Psychologin. Außerdem hat sie ein Romanistikstudium absolviert, ist ausgebildete Tauchlehrerin und war zu Studien- und Forschungszwecken in Paris, Gold Coast (Australien) und Nishinomiya (Japan). Derzeit promoviert sie am Lehrstuhl für Hochbegabtenforschung und -förderung der Universität Trier. Ihr Ziel: Grundschullehrer darin zu unterstützen, hochbegabte Kinder möglichst früh zu erkennen. Tanja Gabriele Baudson ist selbst hochbegabt und Mitglied bei „ Mensa” in Deutschland (Aufnahmekriterium ist ein Intelligenzquotient von mehr als 130). Und sie sagt von sich: „ Ich bin gerne kreativ.” Den Unterschied bringt sie so auf den Punkt: „Kreativität ist gut dafür, Probleme zu finden. Intelligenz ist gut dafür, Probleme zu lösen.”
Kreativitätsforscher unterscheiden beim kreativen Denken fünf Phasen: die Vorbereitung, die Inkubation („Brüten”), die Erkenntnis („Aha!”- oder „Heureka”-Erlebnis) und daran anschließend die Evaluation (Auswertung) und die Elaboration (Ausarbeitung) des Erkannten. Das divergente Denken in alle Richtungen, das durch die Alphawellen im EEG gekennzeichnet ist, ist nach Ansicht von Baudson vor allem in der Vorbereitungs- und in der Inkubationsphase erforderlich: „Es geschieht unbewusst. Es arbeitet in einem.” Spätestens bei der Evaluation sei die Intelligenz gefordert, um die nützlichen von den nutzlosen Ideen zu unterscheiden. Anders gesagt: Dummköpfe können zwar viele Ideen produzieren, merken aber nicht, dass die meisten davon nichts taugen. Intelligenz und Kreativität gehen also Hand in Hand. In den 1960er-Jahren haben Psychologen beides erstmals mithilfe von Tests verglichen: Die Ergebnisse korrelierten – bis zu einem IQ von 120. Bei höheren Intelligenzwerten zeigte sich kein Zusammenhang mehr. Franzis Preckel, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Trier (und Tanja Gabriele Baudsons Doktormutter), hat solche Untersuchungen 2006 mit neuen Tests wiederholt: Sie fand mittlere Korrelationen zwischen Intelligenz und Kreativität über das gesamte Spektrum von unterdurchschnittlich bis hochbegabt.
Kann man also wissenschaftliche Spitzenleistungen oder patentwürdige Erfindungen mithilfe eines Intelligenztests vorhersagen? Das nun wieder nicht. Das zeigt eine amerikanische Studie von 2005, bei der die Intelligenztest-Ergebnisse hochbegabter Jugendlicher mit ihren späteren Erfolgen verglichen wurden – ohne dass sich ein Zusammenhang ergab. Das Fazit, das auch Tanja Gabriele Baudson zieht, lautet: Weder die mit IQ-Tests messbare Intelligenz noch die Fähigkeit zum divergenten Denken, die mit derzeit üblichen Kreativitätstests gemessen wird, sind hinreichende Bedingungen für kreative Spitzenleistungen.
3. Kreativität kommt aus der Bildung
Studien zum Werdegang von Nobelpreisträgern und anderen erfolgreichen Wissenschaftlern und Künstlern haben gezeigt, dass diese meist nicht nur mit guten Geistesgaben gesegnet waren, sondern auch in einem stimulierenden Umfeld aufgewachsen sind. Ein gutes Beispiel dafür ist der Unternehmer und Multimilliardär Bill Gates. Er war ein frühreifes Kind, das sich im Unterricht langweilte. Sein Vater, ein wohlhabender Anwalt in Seattle, und seine Mutter, die aus einer reichen Bankiersfamilie stammt, nahmen ihn daraufhin von der staatlichen Schule und schickten ihn mit Beginn der siebten Klasse in die Lakeside School, ein privates Gymnasium. Dort wurde aus Spendengeldern der Eltern im Jahr 1968(!) ein Computerterminal für die Schüler angeschafft und ein Computerclub gegründet. Bill Gates brachte sich mit 13 selbst das Programmieren bei. Wenig später durften er und seine Freunde in der Firma einer Unternehmerin, deren Sohn ebenfalls auf die Lakeside School ging, die Rechner benutzen. Als die Firma pleite ging, öffneten das Rechenzentrum der University of Washington und später ein anderes Unternehmen ihre Türen für die jungen Computerfreaks. Ende der 1960er-Jahre hatten nur die wenigsten technikbegeisterten Jugendlichen solche Chancen.
Der nächste Bill Gates könnte aus Sachsen kommen. Denn dort hat, von Leipzig ausgehend, der Pädagoge Hans-Georg Mehlhorn zusammen mit seiner Frau und Kollegin Gerlinde ein Netz von privaten Kindergärten, Vorschulen und Grundschulen geknüpft, die sich der Kreativitätsförderung von Kindesbeinen an widmen. Damit ist eine breite Palette von Angeboten gemeint: Singen und Musizieren, Tanz, bildnerisches Gestalten, Theater und kreatives Schreiben, dazu Schach, Informatik, ein Fach namens Erfinden-Entdecken-Erforschen (das ab dem Krippenalter angeboten wird), drei Fremdsprachen – und das alles zusätzlich zum normalen Lernstoff. „Wir setzen Kindergartenkinder vor den Computer und bringen Dreijährigen die Grundbegriffe des Schachspiels bei”, sagt Mehlhorn.
Wie der Schulgründer berichtet, macht den Kindern der Ganztagsuinterricht Spaß. Und wie sehr die schöpferische Vielfalt die Leistung fördert, ist an den Noten abzulesen, die an den Mehlhorn-Schulen überdurchschnittlich sind. „Auch bei Intelligenztests schneiden unsere Schüler deutlich besser ab als die meisten Gleichaltrigen”, sagt Mehlhorn. Bereits nach einem Jahr Vorschule und einem Jahr Unterricht erzielen 80 Prozent der Zöglinge IQ-Werte über 120, nach zwei Jahren Unterricht erreicht die Hälfte aller Schüler Werte wie sonst nur die ein Prozent Besten. Auf welche Weise die Angebotsvielfalt die Intelligenz fördert, erklärt der Pädagoge so: Wenn man frühzeitig alle fünf Dimensionen der geistigen Entwicklung – die kognitive, die kommunikative, die musisch-ästhetische, die motorische und die sozial-emotionale Dimension – fördert, vernetzen sich die Bereiche besser im Gehirn. Man überträgt Fähigkeiten und Wissen aus einem Gebiet ins andere und wird geistig flexibler. Damit ist eine gute Grundlage für kreative Höchstleistungen gelegt.
4. Kreativität kommt aus der Erfahrung
Doch die breite Basis ist noch nicht alles. Wie das Beispiel Bill Gates zeigt, ist auch eine frühe Spezialisierung nötig – am besten auf eine Domäne der eigenen Wahl, mit der sich der junge Geist gerne beschäftigt. Aber auch das gezielte Heranziehen von Wunderkindern ist möglich: Das zeigt nicht nur die Geschichte des Wolfgang Amadeus Mozart, sondern auch die der ungarischen Schwestern Zsuzsa, Zsófia und Judit Pólgar, die von ihrem Vater zu Schachmeisterinnen trainiert wurden. Der amerikanische Autor Malcolm Gladwell macht in seinem jüngsten Bestseller „ Überflieger. Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht” darauf aufmerksam, dass bei Spitzentalenten stets die sogenannte 10 000-Stunden-Regel zutrifft – geradezu ein Grundgesetz der Expertise-Forschung.
Der schwedische Psychologe K. Anders Ericsson fand sie zusammen mit seinen deutschen Kollegen Ralf Krampe und Clemens Tesch-Römer in den 1990er-Jahren in Berlin. Sie hatten die Violinisten der Berliner Hochschule der Künste in drei Gruppen eingeteilt: Stars auf dem Weg zur Solisten-Weltkarriere, gute Orchestermusiker und künftige Geigenlehrer. Gab es einen systematischen Unterschied zwischen den drei Gruppen der allesamt etwa 20-jährigen Studenten? Ericsson und Kollegen fanden heraus, dass es die Zahl der Übungsstunden war: Die Stars hatten früher mit dem Geigespielen angefangen und intensiver geübt als die anderen. Im Alter von 20 verfügten sie bereits über eine „ Berufserfahrung” von 10 000 Stunden. Gladwell macht in seinem Buch eindringlich klar, dass die 10 000- Stunden-Regel immer gilt, egal ob es sich um Schachgroßmeister wie Bobby Fischer, Programmierer wie Bill Gates oder Popmusiker wie die Beatles handelt. „Naturtalente”, die es ohne Üben zum Meister bringen, gibt es nicht. Es gilt aber auch: Wer Talent hat und so intensiv übt wie die Besten, wird immer zum Meister.
5. Kreativität kommt aus der Persönlichkeit
Doch steckt in der Spezialisierung nicht auch die Gefahr, dass man statt zum kreativen Überflieger zum banalen Fachidioten wird? Viele Begabte haben davor Angst und verzetteln sich lieber in einer krausen Vielfalt. Im Mensa-Club, dem Verein der Hochbegabten, kann man Musterbeispiele dafür antreffen – Menschen mit bunten, aber nicht besonders ertragreichen Karrieren. Vermutlich haben manche einfach die falsche Persönlichkeit für einen Spitzenjob. Denn „Persönlichkeit” ist der Faktor, den Kreativitätsforscher als ersten nennen, wenn man sie nach den Quellen der Kreativität fragt. Auch Hirnforscher Andreas Fink nennt sofort „die Persönlichkeit”.
Doch wie ticken sie, die kreativen Überflieger? Die amerikanischen Psychologen Colin Martindale und Dean Keith Simonton haben mit Tests und Lebenslauf-Analysen in die Seelen der Erfolgreichen geschaut. Sie fanden Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Nonkonformismus, unkonventionelles Benehmen, eine breite Spanne von Interessen (also das Gegenteil von Fachidiotie), Offenheit für neue Erfahrungen, Risikobereitschaft und Flexibilität im Denken und Handeln. Mihaly Csikszentmihalyi, Amerikaner mit ungarischen Wurzeln, hat aus zahlreichen Interviews mit Stars der Wissenschaften und Künste am Schluss die Quintessenz gezogen, dass es komplexe Persönlichkeiten sind, die große Gegensätze in sich vereinen und sehr leicht von einem Extrem ins andere fallen können. Er zählt auf:
· Kreative Menschen haben eine Menge physische Energie, sind aber auch häufig ruhig und entspannt.
· Sie sind häufig weltklug und naiv zugleich (man denke an Albert Einstein).
· Sie vereinen auf paradoxe Weise höchste Disziplin mit kindlichem Spieltrieb, Verantwortungsgefühl mit Ungebundenheit.
· Sie sind extravertiert oder introvertiert – je nachdem, in welcher Arbeitsphase sie sich gerade befinden.
· Sie sind gleichermaßen bescheiden und stolz.
· Sie vereinen männliche und weibliche Eigenschaften.
· Sie sind rebellisch – aber sie lernen die Regeln ihres Fachgebiets, bevor sie sie umstoßen.
· Sie engagieren sich für den Gegenstand ihres Interesses, sind aber dennoch fähig, ihn objektiv zu sehen.
Sind sie glückliche Menschen? Im Gegenteil: Zwischen Genie und Wahnsinn gibt es einen Zusammenhang, der schon immer vermutet wurde und den viele interdisziplinäre Studien erhärtet haben (siehe bild der wissenschaft 1/2005, „Genial daneben”). Insbesondere bei Schriftstellern und Dichtern stößt man auf psychische Krankheiten wie die bipolare Störung: extreme Stimmungswechsel von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt, die nicht selten im Selbstmord enden. Vielleicht helfen die Wechselbäder der Gefühle den Kreativen, die Welt immer wieder auf neue Weise wahrzunehmen, vermutet der Buchautor Bas Kast („Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft”), ähnlich wie ein Musikstück immer wieder anders klingt, wenn man an der Stereoanlage den Equalizer verstellt – von Jazz auf Rock oder umgekehrt.
6. Kreativität kommt aus dem Flow
Und doch gibt es glückliche Stunden im Leben der Kreativen. Es sind die, in denen sie ganz in ihrer Arbeit aufgehen. Mihaly Csikszentmihalyi hat für diesen Zustand den Begriff „Flow” geprägt. Wer sich im Flow-Zustand befindet, vergisst Zeit und Raum, das Essen und wichtige Verabredungen. Nichts kann den Künstler von seinem Werk ablenken – er befindet sich in einem Schaffensrausch.
Csikszentmihalyi entdeckte den Flow, als er sich die Frage stellte, warum so viele Schachspieler, Bergsteiger, Tänzer und Komponisten ihre Tätigkeiten lieben und viel Zeit in sie investieren, auch wenn sie ihnen nur selten Ruhm oder Geld einbringen. Die Antwort: Die Belohnung steckt in der Tätigkeit selbst, in der Freude, die die Kreativen beim Tun empfinden. „ Dieses Gefühl stellte sich nicht ein, wenn sie sich entspannten, wenn sie Drogen oder Alkohol nahmen oder das üppige Konsumangebot der Wohlstandgesellschaft nutzten”, schreibt der Psychologe in seinem Buch „Kreativität”. Nein, diese Menschen bewältigen lieber Anstrengungen (siehe auch das Interview mit Rita Levi-Montalcini: „Beträchtliche Verbissenheit”) oder gehen hohe Risiken ein, um immer wieder jenen „spontanen, mühelosen und doch zugleich extrem konzentrierten Bewusstseinszustand” zu erleben, den Flow.
7. Kreativität kommt aus dem Umfeld
Doch kreative Leistungen sind keineswegs das Werk einsamer – und ein wenig verrückter – Genies. Das zeigen wiederum beispielhaft Bill Gates und die Welt, in der er aufwuchs und die er später selbst prägte: die amerikanische Westküste mit ihrer wissenschaftlich-technischen Innovationskraft, von der aus Computer und Internet ihren Siegeszug antraten. Gibt es also kreative und weniger kreative Regionen auf der Welt? Wirtschafts- und Sozialgeographen wie Peter Meusburger von der Universität Heidelberg sind überzeugt davon. Sie produzieren Karten, in denen die Wirkungsstätten von Nobelpreisträgern und berühmten Erfindern eingetragen sind, oder Karten, die anschaulich machen, wie ungleich Indikatoren für kreative Potenziale – etwa die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Patentanmeldungen oder Arbeitsstätten von berühmten Wissenschaftlern – in scheinbar homogenen Kulturräumen wie Europa verteilt sind.
Und dann versuchen sie, die Ursachen für diese räumlichen Konzentrationen zu erfassen. In einigen Städten ziehen Universitäten und erfolgreiche Firmen kreative Mitarbeiter aus der ganzen Welt an, Künstler gesellen sich dazu und finden ein interessiertes Publikum. In Deutschland findet man solche Hotspots der Kreativität beispielsweise in Teilen Bayerns und Baden-Württembergs, an Rhein und Ruhr, in Sachsen und Berlin. Andere Regionen verlieren über Generationen hinweg ständig den Großteil ihrer Kreativen und Hochqualifizierten durch Abwanderung. Verblüffend: Schon das kurze, bewusst gar nicht wahrnehmbare Einblenden eines Städtenamens kann die Leistung in einem Kreativitätstest steigern, sofern die Versuchsperson dieser Stadt Kreativität zuschreibt. Das war das Ergebnis eines psychologischen Experiments an der Universität Bremen: Wer unter den Versuchspersonen beispielsweise London für eine hyperkreative City hält, bei dem genügt schon die Erinnerung an London, um den Einfallsreichtum zu steigern.
„In der Geschichte hat es immer wieder Zentren der Kreativität gegeben, die weit ausstrahlten”, erinnert Meusburger: Florenz im 15. und 16. Jahrhundert, Prag um 1600, Paris und Wien um 1900. An einem kreativen Ort von heute, der Villa Bosch in Heidelberg, versammelten sich 2006 auf Einladung der Klaus-Tschira-Stiftung Geographen, Psychologen, Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler, um dem Geheimnis kreativer Orte auf den Grund zu gehen. Eine Antwort kann Meusburger geben: „ Kreativität entsteht in der Interaktion mit dem Umfeld. Ein bestimmtes Umfeld bietet Anregungen, Chancen oder Herausforderungen, erlaubt oder fördert divergentes Denken und stößt Lernprozesse an. In einem anderen Umfeld stoßen kreative Ideen aus verschiedenen Gründen auf Unverständnis oder Widerstand.”
Ein weiterer Aspekt: Viele kreative Individuen schaffen es nicht, ihre Ideen umzusetzen, weil sie nicht die Ressourcen oder nicht das Interesse haben, diese Ideen weiterzuentwickeln. „ Erfolgreiche Innovationen hängen aber nicht nur von kreativen Ideen ab”, sagt Meusburger, „sondern auch von der Fähigkeit, Kapitalgeber anzulocken, neue Verfahren und Prozesse zu entwickeln, den Wert der Ideen zu kommunizieren, andere Menschen zu überzeugen.” Das heißt: Der kreative Kopf braucht Mitstreiter, die ihm diese Aufgaben abnehmen, wenn er selbst dazu nicht fähig ist. In quirligen Zentren hat er die Chance, sie zu finden. Im stillen Kämmerlein bleibt er mit seinen Ideen allein. ■
von Judith Rauch
LESEN
Mihaly Csikszentmihalyi Kreativität Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden Klett-Cotta, Stuttgart 2007, € 32,–
Martin Dresler, Tanja Gabriele Baudson (Hrsg.) Kreativität Beiträge aus den Natur- und Geisteswissenschaften Hirzel, Stuttgart 2008, € 27,–
Bas Kast WIE DER BAUCH DEM KOPF BEIM DENKEN HILFT Die Kraft der Intuition S. Fischer, Frankfurt 2009, € 9,95
Malcolm Gladwell ÜBERFLIEGER Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Campus, Frankfurt 2009, € 19,90
Peter Meusburger, Joachim Funke, Edgar Wunder (Hrsg.) MILIEUS OF CREATIVITY Springer, Heidelberg 2009, € 105,95
INTERNET
Kreativitätsschulen des Professoren- Ehepaars Mehlhorn: www.mehlhornschulen.de
SYMPOSIUM
Vom 9. bis zum 11. Oktober steht das für alle Interessierten offene Symposium des „Turms der Sinne” in Nürnberg unter dem Motto: Geistesblitz und Neuronendonner Intuition, Kreativität und Phantasie www.turmdersinne.de
„Beträchtliche Verbissenheit”
Sie schreiben in Ihrer Biografie, das Unbekannte hätte Sie so fasziniert, dass Sie nie aufhören konnten zu forschen. Selbst im hohen Alter gehen Sie noch täglich ins Labor. Woher kommt diese Lust, Frau Professor Levi-Montalcini?
Mehr als der Reiz des Unbekannten ist es die Bereitschaft, sich Problemen zu stellen und die Augen vor den Schwierigkeiten zu verschließen. Für die wissenschaftliche Forschung kann ich sagen, dass weder die Intelligenz ausschlaggebend dafür ist, ob ein Vorhaben gelingt und man zu persönlicher Befriedigung gelangt, noch die Fähigkeit, an einer Sache dran zu bleiben und sie akribisch zu Ende zu bringen.
Was ist es dann?
Ein beträchtliches Maß an Verbissenheit. Die Verbissenheit, meinen Weg weiterzuverfolgen, den Weg, den ich für richtig halte. Und den Gleichmut bei Schwierigkeiten, denen ich mich auf diesem Weg stellen muss. Das hat mir enorm dabei geholfen, meine Projekte zu realisieren. Auch heute nützen mir diese Verbissenheit und dieser Gleichmut, wenn ich mich schwierigen Momenten in meinem Leben stellen muss.
Sie dachten immer an die Forschung, auch in den Zeiten der Nazi-Verfolgung. War die Wissenschaft eine Art Flucht für Sie?
Nein, ich habe mich nie in die For-schung geflüchtet. Sie gab mir aber Gewissheit, dass am Ende wohl doch das Gute im Menschen siegt, weil ohne die Forschung die anderen Werte nicht existieren können. Wie Dante schreibt: „Bedenkt, wozu dieses Dasein Euch gegeben: Nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein, um Wis-senschaft und Tugend zu erstreben.” Interview: Sandro Mattioli
KOMPAKT
· Unter den sieben Quellen der Kreativität ist nach Ansicht von Psychologen eine komplexe Persönlichkeit die wichtigste.
· Auch das kreativste Individuum braucht Bildung, Erfahrung und das passende Umfeld, um seine Ideen in Innovationen umzusetzen.