Verglichen mit den großen Ozeanen der Erde scheint die Ostsee auf den ersten Blick eher klein und unbedeutend. Doch dieser Eindruck täuscht, wie nun Meeresforscher darlegen. In ihnen Augen könnte die Ostsee stattdessen sogar globale Bedeutung besitzen – als Vorgeschmack dessen, was auch andere Meere in Zukunft erwarten wird. Denn in diesem flachen, fast von der ozeanischen Zirkulation abgeschnittenen Meeresgebiet herrschen schon heute Bedingungen, wie sie andernorts erst in der Zukunft eintreten werden.
Die Ostsee ist in vieler Hinsicht ein Sonderling unter den Meeren – und sie hat es nicht leicht. Mit einer Fläche von nur 415.000 Quadratkilometern und ihrer geringen Tiefe ist sie eher klein. Weil sie nur über wenige Meerengen mit dem Atlantik verbunden ist, ist ihr Wasser eher salzarm – der Süßwassereinstrom der großen Flüsse macht weite Teile der Ostsee eher brackig als salzig. Für die Meeresorganismen ist schon dies eine erhöhte Herausforderung. Doch es kommt noch heftiger: Kaum ein anderes Meer ist so stark dem Einfluss des Menschen ausgesetzt. “Die Ostsee ist von neun hochentwickelten Industrieländern umgeben, in seinem unmittelbaren Einzugsbereich leben 85 Millionen Menschen”, berichten Thorsten Reusch vom GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und seine Kollegen. Als Folge ist die Ostsee durch dichten Schiffsverkehr, intensive Fischerei und den Einstrom vieler Nährstoffe und Schadstoffe aus Landwirtschaft, Städten und Industrie geprägt.
Entwicklung im Zeitraffer
“Damit erlebt die Ostsee schon jetzt eine Kombination von Belastungen, die für andere Ozeane erst in der Zukunft erwartet werden”, erklären die Forscher. “Die Kombination von geringem Wasservolumen und langsamen Wasseraustausch wirkt wie ein Verstärker und lässt viele Prozesse und Wechselwirkungen in schnellerem Tempo ablaufen als gewöhnlich.” So ist die Temperatur des Ostsee- Wassers schon jetzt um rund 1,5 Grad gestiegen – dreimal mehr als der Schnitt der restlichen Ozeane. Diese Wärme, kombiniert mit einer Überdüngung hat dazu geführt, dass die sauerstoffarmen “Todeszonen” in der Ostsee in den letzten 115 Jahren um das Zehnfache gewachsen sind – mehr als in jedem anderen Meeresgebiet. Auch pH-Wert und CO2-Gehalt des Meerwassers haben in der Ostsee bereits Werte erreicht, wie sie anderswo erst für die Zukunft vorhergesagt werden.
Auch die Ökosysteme dieses Meeres haben sich bereits verändert. So sind in Küstennähe Tangwälder und Seegraswiesen selten geworden, stattdessen breiten sich fädige Aufwuchsalgen aus, wie Reusch und seine Kollegen berichten. Die Abnahme von großen Raubfischen wie dem Kabeljau durch die Überfischung hat zudem zu einer Vermehrung kleinerer Fischarten geführt, die die natürlichen Feinde der Algen weiter dezimieren, wie die Forscher berichten. Auch die Zusammensetzung des Zooplanktons hat sich bereits verschoben: Das wärmere Wasser begünstigt Arten, die ursprünglich in südlicheren Meeren heimisch waren. Insgesamt zeigt sie Ostsee durch diese Zeitraffer-Entwicklung schon heute, was den restlichen Meeren in Zukunft drohen könnte. “Die Ostsee kann als Zeitmaschine dienen”, sagen Reusch und seine Kollegen. Denn an ihr könne man lernen, wie sich Klimawandel und direkte menschliche Einflüsse auf Ökologie und Meeresumwelt auswirken.
Positives Modell
Doch wie die Forscher betonen, zeigt das Beispiel Ostsee auch, dass und wie man mit gezielten Maßnahmen gegensteuern kann. “Sie ist eines der am besten untersuchten küstennahen Meeresgebiete überhaupt – hier haben wir eine hohe Datendichte und viele lange zurückreichende Zeitreihen”, so Reusch und seine Kollegen. Gleichzeitig haben die Anrainerstaaten der Ostsee schon vor einigen Jahrzehnten begonnen, zumindest bei einigen Belastungen gegenzusteuern. So beschränken heute multinationale Verträge die Fischerei und den Einstrom von Schad- und Nährstoffen in die Ostsee. Dadurch haben sich heute die Bestände einiger Fischarten wieder teilweise erholt, der Nährstoffeinstrom und die Belastung durch Schadstoffe beginnt zu sinken, wie die Wissenschaftler berichten.
“Eine echte Trendumkehr kann aber nur erreicht werden, wenn internationale, kooperative Strukturen aufgebaut werden, die über die komplexe Gemengelage multinationaler Interessen hinausreichen”, konstatieren die Forscher. Ein wichtiger Schritt könne dabei sein, zuerst die “tiefhängenden Früchte” auf makroregionaler Ebene anzugehen – beispielweise besonders schwerwiegende Quellen der Belastung. Das führt schnell zu messbaren Besserungen und kann dann den Einstieg zu umfangreicheren Maßnahmen bieten. “Weil die negativen Phänomene in der Ostsee besonders drastisch zutage treten, aber auch, weil einige der Schlüsselprobleme bereits erfolgreich angegangen wurden, kann diese Region uns lehren, was wir von der Zukunft an Herausforderungen zu erwarten haben – und wie wir auf sie reagieren können”, betont Reusch.
Quelle: Thorsten Reusch (GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung, Kiel) et al, Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.aar8195