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DIE KORREKTUR

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DIE KORREKTUR
Eine neue Erklärung des Urknalls – und der Zeit davor. Stephen Hawking provoziert seine Kollegen mit einer kuriosen Idee.

„Mein Ziel ist einfach das vollständige Verständnis des Universums – warum es ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert”, hat Stephen Hawking einmal gesagt. Dieses Ziel hat er in den letzten 40 Jahren trotz seiner schweren Behinderung nie aus den Augen verloren. Und in den letzten Monaten ist er ihm ein gutes Stück näher gekommen. Zusammen mit seinen langjährigen Mitarbeitern und Freunden James Hartle und Thomas Hertog hat er mehrere Vorträge gehalten und Fachartikel verfasst, die bald den Durchbruch zur Erklärung des Urknalls bringen könnten. Schon jetzt sorgt der originelle Ansatz für frischen Wind in den kosmologischen Diskussionen. Hawking hat damit nicht nur seine früheren Ideen ausgebaut und ein paar schwierige Probleme gelöst, sondern er hat sein Weltmodell zum Teil auch revidiert: Der Urknall war demnach wohl doch nicht der absolute Anfang von Allem, sondern vielmehr ein Übergang. Es existierte ein Vorläuferuniversum, das mit unserer Welt über einen seltsamen Zustand der Zeitlosigkeit verbunden ist, aus dem der Urknall entsprang. Und Hawking stieß auf eine bizarre Möglichkeit, die zuvor niemandem eingefallen war: Die Zeitrichtung im Universum vor dem Urknall könnte verglichen mit unserer umgekehrt sein!

Um Hawkings bahnbrechende Leistungen, seine neuen Ideen und die Korrektur seiner Auffassungen zu verstehen, muss man etwas ausholen. Das Ganze liest sich fast wie ein klassisches Drama in fünf Akten. Stephen Hawking hat es im Titel seines 1988 veröffentlichten populärwissenschaftlichen Bestsellers „Eine kurze Geschichte der Zeit” genannt.

1. Akt: 13,7 Milliarden Jahre

Die „kurze Geschichte” unseres Universums, das wissen Kosmologen erst seit 2003, dauerte bislang ziemlich genau 13,7 Milliarden Jahre. So lange dehnt sich der Weltraum bereits aus. In jeder Sekunde wächst das Volumen des beobachtbaren Universums etwa um die Größe unserer Milchstraße. Es ist der Raum selbst, der expandiert und nicht bloß die Materie, die in einem statischen Raum auseinander strebt. Verfolgt man diese Expansion des Alls gedanklich zurück, stellt sich die Frage, ob einst alles in einem Punkt vereinigt war und aus diesem gleichsam ins Dasein explodiert ist. Mit dieser Frage begann Hawkings Karriere.

Der angemessene theoretische Rahmen der Kosmologie ist Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, die die Struktur und Dynamik des Universums als Ganzes beschreibt. Schon 1927 hatte der belgische Astronom und Theologe Abbé Georges Edouard Lemaître seine Lösung der Einstein-Gleichungen als Anfangspunkt eines explodierenden Uratoms interpretiert. „Big Bang” (Urknall) nannte das der britische Astrophysiker und Kosmologe Fred Hoyle 1950 in polemischer Absicht. Er war ein Gegner der Urknall-Theorie und favorisierte einen ewig expandierenden, weitgehend unveränderlichen Kosmos mit ständigem Materie-Nachschub. Doch dieses Steady-State-Modell ließ sich in den Sechzigerjahren nicht länger halten: Die Entdeckung der Kosmischen Hintergrundstrahlung sowie ferner Radiogalaxien und Quasare zeigten, dass unser Universum einst ganz anders aussah und sich weiter entwickelt hat – also keineswegs unveränderlich ist. Außerdem gab es theoretische Widersprüche im Steady-State-Modell, wie Hawking 1965 in seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung nachwies.

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2. Akt: Keine Zeit

Hawking wollte ursprünglich bei Fred Hoyle in Cambridge promovieren. Der lehnte aus Zeitmangel jedoch ab, und so entschied sich Hawking für Dennis Sciama als Betreuer, der damals noch mit dem Steady-State-Modell sympathisierte. Hawkings bereits 1966 abgeschlossene Dissertation und seine weiteren Arbeiten überzeugten ihn aber bald vom Gegenteil. Zusammen mit Roger Penrose von der Oxford University hat Hawking neue mathematische Methoden in der Relativitätstheorie entwickelt und damit bewiesen, dass (unter sehr allgemeinen Voraussetzungen) eine Urknall-Singularität unvermeidlich war. Verfolgt man nämlich die Expansion des Alls im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie immer weiter in die Vergangenheit – so als würde man den kosmischen Film rückwärts abspielen –, gelangt man an einen unerfreulichen Punkt in den Gleichungen: eine Singularität. Hier werden Temperatur, Dichte, Energie und Krümmung unendlich, Raum und Zeit dagegen null. Die Relativitätstheorie bricht in ihrer Gültigkeit und Anwendbarkeit zusammen. Was bleibt, ist ein großes Fragezeichen.

Viele Kosmologen wollten zuvor nicht an einen solchen seltsamen Extrempunkt glauben. Sie hielten ihn für ein mathematisches Artefakt. Und sie argumentieren: Nichts lasse sich beliebig zusammenpressen, irgendwann überwiege stets der Gegendruck. Vielleicht habe sich das Universum auch nicht überall völlig gleichmäßig ausgedehnt. Wenn man die Expansion zurückrechnet, müssten sich dann auch nicht alle Weltlinien in einem Punkt vereinigen, sondern könnten gleichsam aneinander vorbeilaufen. Alle diese Einwände konnten Hawking und Penrose mit ihren inzwischen legendären Singularitätstheoremen entkräften. Doch diese Erkenntnis war ein Pyrrhus-Sieg, denn sie versperrte den Weg zu einer Erklärung des Urknalls: Wenn in der Singularität keine Naturgesetze mehr gelten, dann entgleitet sie gleichsam dem Zuständigkeitsbereich der Physik. Das war für manche Theologen, Philosophen und Physiker ein willkommener Ankerplatz für metaphysische Spekulationen bis hin zu einem schöpferischen Eingriff Gottes. Tatsächlich wurde Hawking 1981 von den Jesuiten auf eine Kosmologie-Konferenz in der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften eingeladen. Papst Johannes Paul II – der sogar vor Hawking niederkniete – ermunterte ihn und die anderen Forscher dort, die Entwicklung des Universums seit dem Urknall zu studieren, wollte diesen aber als Gottes Refugium unangetastet wissen. Doch Hawking stellte ein physikalisches Modell vor, das die Entstehung des Universums ohne eine überweltliche Intervention zu erklären versuchte – und gleichzeitig die ominöse Urknallsingularität vermied.

3. Akt: Imaginäre Zeit

Quanteneffekte, so die Idee, dominierten beim Urknall, und deshalb muss die Relativitätstheorie durch eine Quantentheorie der Gravitation ersetzt werden – eine „Weltformel”, die bislang freilich erst in Ansätzen existiert. Hawking fand zumindest eine spekulative Näherungslösung, die ganz neue Möglichkeiten eröffnete: „Wäre die Grenze des Universums nur ein normaler Punkt in Raum und Zeit, könnten wir über ihn hinausgehen und das dahinter gelegene Gebiet zu einem Teil des Universums erklären. Wäre dagegen der Rand des Universums eine Art Riss, eine Region, in der die Raumzeit bis zur Unkenntlichkeit zerstaucht und die Dichte unendlich wäre, hätten wir große Schwierigkeiten, sinnvolle Randbedingungen zu definieren”, schrieb er später. Hawking nahm kurzerhand an, dass das Universum gar keinen Rand und keine Grenze besitzt. Mit James B. Hartle von der University of California in Santa Barbara hat er diesen Vorschlag dann 1982 in einer vielzitierten Arbeit genauer ausgearbeitet. Dieses „ No-Boundary Proposal” überwindet gleichsam die in der Physik übliche Unterscheidung von Anfangs- oder Randbedingungen einerseits und Naturgesetzen andererseits. Es macht die Randbedingungen zu einem Teil der Gesetze. Denn eine Quantentheorie der Gravitation eröffnet die Möglichkeit, dass die Raumzeit keine Grenze hat. „Es wäre also gar nicht notwendig, das Verhalten an der Grenze anzugeben”, erklärt Hawking diesen schwierigen Gedanken. „Es gäbe keine Singularitäten, an denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit einbüßten, und keinen Raumzeitrand, an dem man sich auf Gott oder irgendein neues Gesetz berufen müsste, um die Grenzbedingungen der Raumzeit festzulegen. Man könnte einfach sagen: Die Grenzbedingung des Universums ist, dass es keine Grenze hat. Das Universum wäre völlig in sich abgeschlossen und keinerlei äußeren Einflüssen unterworfen. Es wäre weder erschaffen noch zerstörbar. Es würde einfach SEIN.”

Hinter dieser Aussage steckt der mathematische Trick, die Zeitkoordinate in der vierdimensionalen Raumzeit durch eine vierte Raumkoordinate zu ersetzen. Durch die Multiplikation mit dem Faktor i (definiert als i2 = –1) wird die reale Zeit gleichsam verräumlicht: Sie ist eine imaginäre Zeitkoordinate (siehe Grafik links „Reelle und imaginäre Zeit”). Dadurch lässt sich die unphysikalische Singularität durch eine Art vierdimensionale Halbkugel ersetzen: ein sogenanntes Instanton. Es hat keinen Rand. Deshalb ist es sinnlos, wissen zu wollen, was dahinter kommt.

Das ist genauso unsinnig wie die Frage, was südlich des Südpols liegt. „Der Südpol ist ganz ähnlich wie jeder andere Punkt auf der Erdoberfläche”, meint Hawking. „Zumindest wurde mir das gesagt. Ich habe zwar schon die Antarktis besucht, nicht aber den Südpol selbst.” Und so, wie die Naturgesetze am Südpol in Kraft sind, sollte das auch beim Urknall der Fall gewesen sein. „ Das würde den alten Einwand beseitigen, dass die Naturgesetze am Anfang des

Universums nicht galten. Stattdessen wäre auch dieser Anfang den Naturgesetzen unterworfen. Die Idee, die Jim Hartle und ich entwickelt haben, beschreibt die spontane Quantenentstehung des Universums ähnlich wie die plötzliche Bildung von Gasblasen in einem Kochtopf mit Wasser.” Damit wird die Frage, wie es zum Urknall kam, zu einem Gegenstand der physikalischen Kosmologie. „ Das Universum gibt es, weil die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie seine Existenz ermöglichen und erfordern”, sagt Hawking. „Wenn ich recht habe, ist das Universum in sich selbst gegründet und wird von den Naturgesetzen allein regiert.”

In einem Interview im israelischen Fernsehen zu seinem 65. Geburtstag letztes Jahr bekräftigte Hawking diese These: „Ich denke, dass das Universum spontan aus dem Nichts entstand gemäß den Gesetzen der Physik.” In gewisser Weise habe es weder Anfang noch Ende. „Die Grundannahme der Wissenschaft ist der wissenschaftliche Determinismus: Die Naturgesetze bestimmen die Entwicklung des Universums, wenn sein Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben ist. Diese Gesetze können von Gott erlassen worden sein oder nicht, aber er kann nicht eingreifen und die Gesetze brechen, sonst wären es keine Gesetze. Gott bliebe allenfalls die Freiheit, den Anfangszustand des Universums auszuwählen. Aber selbst hier könnten Gesetze herrschen. Dann hätte Gott überhaupt keine Freiheit.” Den Begriff Gott verwendet Hawking nach eigener Aussage „in einem unpersönlichen Sinn, so wie es Einstein für die Naturgesetze tat”. Für die Annahme eines fürsorglichen Schöpfers sieht er keinen Grund: „Wir sind so unbedeutende Kreaturen auf einem kleinen Planeten eines sehr durchschnittlichen Sterns in den Außenbezirken von einer Galaxie unter 100 Milliarden. Daher ist es schwer, an einen Gott zu glauben, der sich um uns kümmert oder auch nur unsere Existenz bemerkt.” Hawking legt allerdings großen Wert darauf, dass seine Hypthese bloß ein Vorschlag ist. „Der ultimative Test ist, ob die Vorhersagen mit den Beobachtungen übereinstimmen. In der Vergangenheit war Kosmologie ein Gebiet, in dem wilde theoretische Spekulationen nicht durch Beobachtungen eingeschränkt wurden. Aber jetzt setzen präzise Messungen den theoretischen Modellen enge Grenzen. Ich bin froh, dass sich die Beobachtungen bislang mit meiner Hypothese vereinbaren lassen.”

4. Akt: Zeit des Umbruchs

Das „No-Boundary Proposal” war ein konzeptueller Durchbruch und wurde von vielen Forschern aufgegriffen. Aber es hatte auch Schwächen. Zunächst gibt es noch keine durch Beobachtungen bestätigte Theorie der Quantengravitation. Hawkings Vorschlag beruht daher auf spekulativen Annahmen. Doch das gilt auch für alle konkurrierenden Modelle. Außerdem passen die inzwischen gemessenen kosmologischen Parameter nicht mehr zu dem ursprünglichen Modell. Es ging von einer aus heutiger Sicht zu hohen Materiedichte aus und berücksichtigte auch die ominöse Dunkle Energie nicht, die gegenwärtig für eine beschleunigte Ausdehnung des Weltraums sorgt. Die Indizien dafür haben Astronomen erst 1998 entdeckt. Eine dritte Schwierigkeit war, dass Hawkings ursprüngliches Modell nicht gut zum Szenario der Kosmischen Inflation passte, das damals gerade erst entwickelt wurde. Es postuliert eine extrem schnelle Aufblähung des Universums im ersten Sekundenbruchteil nach dem Urknall (siehe „ Gut zu wissen: Kosmische Inflation”) – eine Vorstellung, die nicht von allen Kosmologen akzeptiert wird. Doch die meisten Forscher sind inzwischen davon überzeugt, dass eine solche Inflation unser Universum erst groß gemacht hat.

Diese Probleme ließen Hawking keine Ruhe. Immer wieder ging er sie mit verschiedenen Kollegen an. Vor einigen Jahren kam ihm dann die Idee, die „kurze Geschichte der Zeit” mit einem neuen methodischen Ansatz zu schreiben (siehe Grafik rechts „Viele Geschichten des Universums”). Diesen „Top-down-Ansatz” haben Hawking, Hartle und Hertog jetzt mit dem „No-Boundary Proposal” verbunden. Ein Vorteil des neuen Modells besteht darin, dass es das Szenario der Inflation integriert – und ebenso die ominöse Dunkle Energie, die in dem neuen Modell als zusätzliches Energiefeld beschrieben wird.

Dies tun auch viele andere Forscher. Ende November 2007 veröffentlichten die drei Kosmologen einen kurzen, bis zum Februar noch mehrfach überarbeiteten Artikel in der einschlägigen Internet-Datenbank arXiv mit dem Titel „The No-Boundary Measure of the Universe”. Im Dezember stellten sie ihre Überlegungen auf einer hochkarätigen Kosmologie-Konferenz in Cambridge der Fachwelt vor (bdw 3/2008, „Zu Gast bei Stephen Hawking”). Und im März folgte die Abhandlung „The Classical Universes of the No-Boundary Quantum State” mit ausführlichen Berechnungen. Darin wird gezeigt, wie sich ein Universum mit Kosmologischer Konstante, Materie und klassischer Raumzeit mit der Kosmischen Inflation und einem Instanton vereinbaren lässt. Mehr noch: Die klassische Raumzeit heute, die mit der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben wird, macht die Inflation sogar zwingend notwendig, wenn man eine von Hawking eingeführte statistische Gewichtung der Beobachtungsdaten in den Top-down-Ansatz einspeist. „Was wir feststellten ist, dass Entwicklungsgeschichten mit Inflation die höchste Wahrscheinlichkeit besitzen”, nennt Thomas Hertog, der inzwischen an der Universität Paris forscht, ein wichtiges Ergebnis. Die neuen Rechnungen zeigen aber noch mehr: Im Gegensatz zu dem Hawking-Hartle-Instanton-Modell von 1982 gibt es jetzt auch Modelle, bei denen das Instanton einen Übergang („Bounce”) beschreibt. Der Urknall ist hier eine „Brücke” zwischen einem kontrahierenden Vorgängeruniversum und unserem expandierenden All.

Wenn der Urknall tatsächlich ein solcher Bounce war, stellt sich die Frage, was davor geschah. Theoretisch könnte es im All sogar noch Spuren des Vorgängeruniversums geben – eingraviert beispielsweise im Gravitationswellenhintergrund oder, indirekt, im Temperaturverteilungsmuster der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Andere Modelle, die den Urknall als Übergang beschreiben, haben dies vorausgesagt – besonders das Prä-Big-Bang-Modell sowie das Modell vom Zyklischen Universum (bild der wissenschaft 4/2003, „Die Zeit vor dem Urknall” und 5/2002, „Ewige Wiederkehr”).

Hawking und seine Kollegen sind skeptisch, was solche kosmischen Fossilien betrifft. Zum einen ist es schwierig, die Instanton-Beschreibung zu interpretieren. Da sie zeitlos ist – beziehungsweise nur die imaginäre, also verräumlichte Zeit hat –, wird die Rede von einem „Davor” sinnlos. Außerdem bleibt die Frage nach der Realität eines Vorgängeruniversums. Hawking war zunächst skeptisch, ließ sich von seinen Kollegen jedoch von dieser Möglichkeit überzeugen.

5. Akt: Rückwärtszeit

Von einem Aspekt wurden die Kosmologen beim Lösen ihrer Gleichungen und den Näherungsrechnungen im Computer selbst überrascht: Die Zeitrichtung des Vorläuferuniversums ist der in unserem Universum entgegengesetzt, wenn man sie wie üblich als Zunahme der Entropie definiert. (Die Entropie ist ein physikalisches Maß für die Unordnung eines Systems.) „Die thermodynamischen Pfeile zeigen vom Bounce in verschiedene Richtungen”, sagte Hartle im Dezember in Cambridge. „Ereignisse der einen Seite haben kaum einen Effekt auf die Ereignisse der anderen.”

Dieser Gedanke ist neu und wurde von Hawking in einem Vortrag Mitte letzten Jahres sogar noch als mathematisches Artefakt interpretiert. Die Idee kommt auch in früheren Vorläuferuniversum-Hypothesen nicht vor. Bei ihnen läuft die Zeit immer in derselben Richtung, auch durch den Urknall hindurch. Hawking, Hartle und Hertog zufolge entsprang der Urknall aber einem Bounce. Ob dabei gleichsam zwei zeitlich gegenläufige Universen miteinander kollidierten oder das Vorläuferuniversum seine Zeitrichtung wechselte und zu unserem wurde, lässt sich schwer sagen. Vielleicht sprangen ja beide Universen auch aus der Zeitlosigkeit ins Dasein und entwickelten sich im strengen Wortsinn voneinander weg. Das neue Weltmodell wirft also noch viele fundamentale Fragen auf. Und die hängen wesentlich davon ab, was die Zeit eigentlich ist – wenn sie für sich genommen überhaupt existiert (bild der wissenschaft 1/2008, „Zeit ist nur eine Illusion”). Fest steht: Die kosmische Rückwärtszeit, wenn es sie denn gibt, versperrt den Blick ins Vorläuferuniversum. Im jüngsten Artikel wird das neue Szenario folgendermaßen formuliert: „Könnten wir Informationen von außerirdischen Intelligenzen empfangen, die vor dem Bounce lebten, und die sie mittels Gravitationswellen, Neutrinos oder Kisten aus extrem haltbarer Materie geschickt haben?” Eine besondere Materie wäre nötig, weil infolge der hohen Temperaturen im Bounce keine Atomkerne existieren konnten.

Was es jedoch im Bounce gegeben haben müsste, sind winzige Energieschwankungen (Quantenfluktuationen). Sie verstärkten sich dann in den beiden Zeitrichtungen. In unserem Universum wurden sie durch die Kosmische Inflation extrem aufgeblasen und erzeugten die bis heute beobachtbaren Temperaturschwankungen in der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Sie spiegeln die Dichteunterschiede im Urgas wider – die Keimzellen der Galaxienbildung. Wenn die thermodynamischen Zeitpfeile auch die Richtung von Ursache und Wirkung anzeigen, dann scheint das Vorgängeruniversum keine Auswirkungen auf unser Universum zu haben. „Sie müssten sich sonst gleichsam in der Zeit zurückbewegen können”, argumentieren die Forscher. „Wir meinen das wirklich ernst”, betont Hertog. Aber im Fachartikel ist das gleichwohl mit einem Augenzwinkern formuliert: „Wenn nicht intelligente Außerirdische einen Weg finden, Informationen über Jahrmilliarden in der Zeit zurückzusenden, ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir Botschaften von ihnen empfangen. Genauso, wie wir auch keine von intelligenten Aliens aus unser eigenen Zukunft erhalten.”

Himmlische Botschaften zu bekommen, wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein. Dennoch könnten in der Kosmischen Hintergrundstrahlung die Zeugnisse des Bounce eingraviert sein. In den letzten Wochen haben Hawking, Hartle und Hertog mit Berechnungen begonnen, um diese Spuren zu charakterisieren. Eine korrekte Voraussage wäre ein krönender Abschluss dieses Akts des kosmischen Schauspiels – aber kein tragisches Ende, sondern ein Triumph des menschlichen Geistes. ■

von Rüdiger Vaas

Gut zu wissen: Kosmische Inflation

Inflation meint stets eine exponentielle Zunahme – nicht nur des Geldes, sondern auch des Weltraums. „In Deutschland war die Inflation einst verheerend – eine Zunahme der Geldmenge um das Zehnmillionenfache in 18 Monaten. Das Universum vergrößerte sich dagegen im Bruchteil einer Sekunde um vielleicht das 1026-fache – und das war gut, denn erst so wurde es riesig”, sagt Stephen Hawking.

In der Kosmologie wurde das Modell der Kosmischen Inflation Anfang der Achtzigerjahre von Alan Guth, Paul Steinhardt, Andrei Linde, Alexei Starobinsky und anderen entworfen – und stieß rasch auf inflationäre Zustimmung. Denn es löste mit einem Schlag zahlreiche Probleme und beantwortete offene Fragen des Urknall-Modells – beispielsweise, warum das Weltall so groß, „ flach” und gleichmäßig ist (bdw 12/2001, „Modell Klassik”). Hawking hat das Modell von Anfang an aufmerksam verfolgt und mit dem von ihm veranstalteten Workshop „The Very Early Universe” 1982 auch maßgeblich gefördert. Damals waren alle führenden Köpfe drei Wochen lang in Cambridge zusammengekommen und hatten die Grundlagen dessen erarbeitet, was heute oft als Standarderweiterung der Urknall-Theorie gehandelt wird. Dabei ist das Szenario der Inflation keineswegs gesichert. Es ist noch nicht einmal klar, was die exponentielle Raumausdehnung überhaupt verursacht und beendet hat. Andererseits überstand das Szenario zahlreiche Tests, und viele Voraussagen wurden bestätigt. Inzwischen gibt es einige Hundert Modelle, die alle überprüfbar sind. Auch die europäische Raumsonde Planck, die Anfang 2009 ins All starten soll, wird prüfende Messungen vornehmen.

Die Kosmische Inflation hat Hawking lange Kopfzerbrechen bereitet, weil sie sich nur mit problematischen Zusatzannahmen oder statistischen Klimmzügen in sein Urknall-Erklärungsmodell integrieren ließ. Doch in seinen neuen Arbeiten mit James Hartle und Thomas Hertog konnte er diese Schwierigkeit beseitigen.

KOMPAKT

· Stephen Hawking hat seine Vorstellung vom Ursprung des Urknalls revidiert.

· Seine neue Sicht: Vor unserem Universum existierte schon ein anderes mit einer seltsamen Eigenschaft – die Richtung der Zeit war der heutigen entgegengesetzt.

· Auch die Kosmische Inflation und die Dunkle Energie, die bislang nicht in Hawkings Weltmodell passten, sind jetzt damit vereinbar – ein großer Fortschritt.

viele Geschichten DES UNIVERSUMS

In Stephen Hawkings Quantenkosmologie hat das Universum nicht nur eine Geschichte, sondern viele möglichen Geschichten, die sich alle überlagern. Sie lassen sich berechnen und haben verschiedene Wahrscheinlichkeiten. Die Beobachtung der Eigenschaften des Alls heute erlauben dann Rückschlüsse auf die Vergangenheit – vielleicht sogar darauf, wie es zum Urknall kam. Dieser „Top-down”-Ansatz von Hawking arbeitet sich gleichsam von der Gegenwart in die Tiefe der Zeit hinab. Er steht im Gegensatz zu den üblichen „Bottom-up”-Ansätzen, die einen bestimmten Anfangszustand im Urknall postulieren und untersuchen, ob sich dieser mit den Beobachtungen heute vereinbaren lässt.

Drei Weltmodelle

Das Universum begann im Rahmen plausibler Annahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie mit einer ominösen Urknall-Singularität (links) – wie Stephen Hawking und Roger Penrose zwischen 1965 und 1970 bewiesen haben. 1983 gelang es Hawking mit James Hartle, diese Singularität in einem quantenkosmologischen Modell durch ein „Instanton” mit imaginärer Zeit zu ersetzen (Mitte). Damit wäre der Urknall erklärbar. Das Modell hatte jedoch Probleme, die Hawking und Hartle jetzt mit Thomas Hertog lösen konnten: Auch das neue Modell beschreibt den Urknall mithilfe eines Instantons – doch zuvor existierte möglicherweise ein kollabierendes Universum. Der Urknall wäre dann ein Übergang (Bounce) zu diesem Vorläufer-All, in dem die Zeit kurioserweise die umgekehrte Richtung hat (rechts).

Reelle und imaginäre Zeit

Wird das Universum im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben, hat es im Urknall eine Singularität – eine Stelle, wo die Naturgesetze außer Kraft sind – und ebenso im Endknall, falls es dazu käme. Das ist mit dem Schnittpunkt von Längengraden an den Polen vergleichbar (links). Doch in der Natur kann eine Singularität aufgrund ihrer unendlichen Dichte, Energie und Krümmung nicht existieren – sie ist ein mathematisches Artefakt, das den Zusammenbruch der Theorie markiert. Daher suchen Kosmologen nach singularitätsfreien Modellen. Stephen Hawking entwickelte ein solches mithilfe der imaginären Zeit (Instanton). Sie steht gleichsam senkrecht zur uns vertrauten reellen Zeit. In ihr gibt es – wie bei den Breitengraden – keine Singularität (rechts). Ob die imaginäre Zeit nur ein mathematischer Trick ist, wird kontrovers diskutiert.

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Verschiedene Texte von Hawking zum schnellen Einstieg: Hubert Mania (Hrsg.): DAS GROSSE STEPHEN HAWKING LESEBUCH Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006 € 9,90

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INTERNET

Stephen Hawkings Homepage: www.hawking.org.uk/

Der Lucasische Lehrstuhl für Mathematik: www.lucasianchair.org/

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