Neurowissenschaftler sind sich prinzipiell darüber einig, dass die neuronalen Prozesse bei der Gesichtserkennung etwas Besonderes sind. Doch bislang ist unklar, inwiefern sich die entsprechenden Hirnfunktionen von denjenigen im Rahmen der Wiedererkennung bekannter Objekte unterscheiden. Es gibt dazu zwei unterschiedliche Hypothesen: Die Gesichts-spezifische Hypothese besagt, dass die Mechanismen der Gesichtserkennung nur von Gesichtern aktiviert werden. Der sogenannten „Expertise-Hypothese” zufolge spielen hingegen auch visuelle Reize eine Rolle, die von Gesichtern unabhängig sind, also auch der Erkennung von Objekten dienen.
Die Forscher um Constantin Rezlescu von der Harvard University in Cambridge sind dieser Unklarheit nun mit Hilfe zweier Studienteilnehmer nachgegangen, denen die Fähigkeit zur Gesichtserkennung fehlt: Sie sind von der sogenannten Prosopagnosie betroffen – der Gesichtsblindheit. Prosopagnostiker erkennen zwar das Konzept von Gesichtern – die Kombination aus Augen, Mund und Nase – sie können aber den visuellen Eindruck nicht mit bekannten Personen in Verbindung bringen. So kann es passieren, dass sie an eigentlich vertrauten Personen reaktionslos vorbeilaufen oder sogar das eigene Spiegelbild nicht wiedererkennen.
Zwei Gesichtsblinde geben Einblicke
Die Prosopagnosie kann angeboren sein oder erworbene Ursachen haben. Im Fall der beiden Studienteilnehmer „Florence” und „Herschel” war der Auslöser ein Schlaganfall beziehungsweise eine Epilepsiebehandlung. Abgesehen von ihrer Gesichtsblindheit zeigen Florence und Herschel normale kognitive Leistungen. Die Forscher testeten im Rahmen der Studie die Fähigkeit der beiden, sich Objekte mit bestimmten Eigenschaften einzuprägen und sie später wiederzuerkennen. Falls die Expertise-Hypothese richtig wäre, müssten die gesichtsblinden Probanden damit ebenfalls Probleme haben, erklären die Forscher.
Über einen Zeitraum von acht Tagen hinweg trainierten die beiden Prosopagnostiker und eine Gruppe von Kontrollprobanden, bestimmte computergenerierte Objekte zu erkennen und zu unterscheiden. Es handelte sich um sogenannte „Greepels” – Objekte, die ähnliche Struktureigenschaften wie Gesichter besitzen. Parallel dazu wurde bei allen Studienteilnehmern auch die Fähigkeit erfasst, sich Gesichter einzuprägen und wiederzuerkennen.
Die Auswertungen zeigten: Wie zu erwarten war, hatten Florence und Herschel große Probleme bei der Gesichtserkennungs-Aufgabe. Doch im Fall der Greepels war das nicht der Fall. Diese Objekte konnten sie sich ebenso gut einprägen und wiedererkennen wie die Probanden der Kontrollgruppe. Den Forschern zufolge spricht das Ergebnis dafür dass ein Gesicht ein besonderer visueller Reiz ist, der wiederum einen speziellen Mechanismus der Gesichtserkennung auslöst. Bei der Wiedererkennung von anderen Objekten benutzt der Mensch offenbar neuronale Mechanismen, die wiederum nicht für die Gesichtserkennung nötig sind.