„Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. – Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.” Dieses Zitat stammt aus der sarkastischen Science-Fiction-Satire „Per Anhalter durch die Galaxis” des britischen Schriftstellers Douglas Adams. Tatsächlich gibt es in der Kosmologie zahlreiche verrückte Modelle für das Universum. Doch was einige der angesehensten Forscher zurzeit diskutieren, klingt für den Laien so abenteuerlich und verrückt, dass die Idee direkt aus Douglas Adams intergalaktischen Humoresken zu stammen scheint: Das Leben, das Universum und der ganze Rest (wie Adams eine Fortsetzung seines Romans genannt hat) könnte ein einziger wahnsinniger Gedanke sein – die bloße Einbildung eines halluzinierenden Gehirns, das gerade erst aus einem Zucken des Vakuums entsprungen ist.
Ein solches „Boltzmann-Gehirn” – benannt nach dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, der sich schon im 19. Jahrhundert mit ähnlichen Überlegungen herumschlug – steht bei Kosmologen als Sinnbild für einen beliebigen intelligenten Beobachter, der nicht durch die Evolution auf einem Planeten entstanden ist, sondern als spontane Ausgeburt des Vakuums.
Auch ein Mensch im Raumanzug könnte auf diese Weise auftauchen – was aber viel unwahrscheinlicher ist – oder ein miniaturisierter Supercomputer, der zu denken vermag. Es geht also bloß um Systeme, die wenigstens einen Augenblick lang Bewusstsein besitzen und sich eine Welt einbilden können, wie wir sie wahrzunehmen und im Gedächtnis zu haben glauben. Diese Idee klingt nicht nur verrückt – sie ist es auch. Und genau darin besteht das Problem. Denn gemäß dem gut fundierten Standardmodell der modernen Kosmologie und Astrophysik könnte ein solches Gehirn wesentlich wahrscheinlicher sein als unser ganzes Universum. Ein nacktes Gehirn, das sich quasi „aus dem Nichts” über dem Küchentisch materialisiert? Prinzipiell besteht diese Möglichkeit im Rahmen der bekannten Naturgesetze durchaus.
Das folgt sowohl aus der Quantenphysik als auch aus der Thermodynamik: Teilchen können sich zufällig zu komplexen Konfigurationen anordnen – und sie entstehen bisweilen sogar aus der Energie, die im Vakuum steckt, denn der leere Raum ist nicht vollkommen leer, ist kein absolutes Nichts (bild der wissenschaft 10/2006, „Nichts”). Wenn also nur ausreichend Platz und Zeit vorhanden sind, geschehen auch die unwahrscheinlichsten Dinge. Das ist allerdings schon lange bekannt und nicht sonderlich aufregend. Denn das beobachtbare All ist viel zu klein und jung, als dass eine solche gespenstische Kreation wohl auch nur ein einziges Mal irgendwo stattgefunden hat.
Aber: Wenn das gegenwärtig favorisierte Weltmodell zutrifft, könnten sich nicht nur unendlich viele solcher seltsamen Gehirne bilden. Sie könnten auch in einer Art Wahnvorstellung – wenigstens für ein paar Momente – ein Universum ringsum imaginieren. Und: Jeder von uns könnte ein solches Gehirn sein. Noch radikaler: Sie, lieber Leser, könnten allein existieren und ein solches Boltzmann-Gehirn sein. Dann wäre die gesamte Außenwelt Ihre wahrhaft kosmische Halluzination. Diese Ausgabe von bild der wissenschaft, die Atemluft ringsum, die Bäume am Horizont und auch die fernsten Galaxien wären eine riesige Täuschung. Und das gälte auch für alle Erinnerungen, etwa an die Dinosaurier-Fossilien im Museum oder an den letzten Strafzettel wegen einer Geschwindigkeitsübertretung. So abstrus das alles klingen mag – es ist kein bloßes Hirngespinst (oder eben doch …). Denn es gibt ein gutes Argument dafür, dass in einem bestimmten Volumen, etwa dem des beobachtbaren Universums, unendlich viele Boltzmann-Gehirne entstehen können, aber nur endlich viele „normale” intelligente Beobachter, beispielsweise Menschen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, ein Boltzmann-Gehirn zu sein, unendlich viel größer als etwa die, ein Mensch zu sein.
Dieses Argument, das von dem renommierten Physiker Leonard Susskind von der Stanford University stammt, droht die Kosmologie in eine schwere Krise zu stürzen. Es stützt sich auf die Entdeckung der Dunklen Energie, die seit etwa fünf Milliarden Jahren dafür sorgt, dass sich der Weltraum immer schneller ausdehnt. Was genau sich dahinter verbirgt – Albert Einsteins Kosmologische Konstante ist die einfachste Erklärung – wird noch kontrovers diskutiert. Fest steht, dass in einem beschleunigt expandierenden Weltall die Elementarteilchen immer weiter verdünnt werden und schließlich nicht mehr interagieren können. Doch die Dunkle Energie bleibt erhalten und ist die Basis für die quantenphysikalischen Zufallsprodukte. Ein solches Weltall wurde bereits 1917 von dem holländischen Astronomen Willem de Sitter im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben. Aber erst später erkannten Physiker, dass es mathematisch einem Raum entspricht, der von einem Schwarzen Loch umgeben ist. Und so wie am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs aufgrund von quantenphysikalischen Prozessen eine schwache Strahlung entsteht – das war Stephen Hawkings bahnbrechende Entdeckung 1974 –, wird auch ein beschleunigt expandierender Raum von Photonen und anderen Teilchen erfüllt. Das haben Hawking und Gary Gibbons von der University of Cambridge 1976 berechnet. Die Gibbons-Hawking-Strahlung ist außerordentlich schwach: Sie entspricht einer Temperatur von weniger als 10–28 Grad Celsius. Aber diese Quantenenergie des Vakuums reicht aus, um in langen Zeiträumen – und das de-Sitter-Universum sollte ewig existieren – unendlich viele Boltzmann-Gehirne sowie andere Seltsamkeiten hervorzubringen.
Man kann diese Schlussfolgerung auch quantifizieren. So hat Roger Penrose von der University of Oxford abgeschätzt, dass die Wahrscheinlichkeit für unser Universum, so wie es ist, nur 1 zu 10 hoch 10 hoch 123 beträgt. Wollte man diese doppelte Hochzahl ausschreiben, wären dafür weitaus mehr Hefte von bild der wissenschaft nötig, als im gesamten beobachtbaren Universum Platz hätten. Im Vergleich dazu ist die Wahrscheinlichkeit für eine kurzlebige kosmische Einbildung ziemlich groß: Zwischen vielleicht 1 zu 10 hoch 10 hoch 21 für einen bewussten, kleinstmöglichen Computer und 1 zu 10 hoch 10 hoch 51 bis 1 zu 10 hoch 10 hoch 70 für ein Boltzmann-Gehirn. Auch diese Zahlen sind astronomisch groß – aber verglichen mit 1 zu 10 hoch 10 hoch 123 geradezu mickrig. (Wollte man 10 hoch 10 hoch 51 ausschreiben, würden die bdw-Heftstapel dafür bequem in der Milchstraße Platz finden.) Die kosmische Ordnung, wie wir sie beobachten, sollte also pure Fantasie sein und mit dem sofortigen Ableben des Boltzmann-Hirns augenblicklich wieder verschwinden. Das ist die bizarrste und verstörendste Schlussfolgerung oder Vorhersage in der Geschichte der Kosmologie. Zwar glaubt kein Forscher ernsthaft daran – doch es weiß auch keiner, wo der Fehler steckt. Insofern sind Boltzmann-Gehirne keine weltfremde Spinnerei abgehobener Wissenschaftler, sondern eine Art Reality Check.
Ein Ausweg aus dem ko(s)mischen Paradoxon könnte darin bestehen, dass wir keine typischen Beobachter sind. Dann wäre der Vergleich mit Boltzmann-Gehirnen womöglich gegenstandslos. James Hartle und Mark Srednicki von der University of California in Santa Barbara haben so argumentiert. Anders gesagt: Vielleicht ist das All, das wir erforschen, nur eine unwahrscheinliche Ecke im ganzen Kosmos. „Das ist wie mit den Menschen auf der Erde”, sagt Hartle. „Sie sind auch viel seltener als die Insekten.” Das hieße aber, dass wir die meisten Vorstellungen vom Kosmos über Bord werfen müssen und wohl niemals herausfinden können, wie er wirklich beschaffen ist.
„Die Annahme, dass wir typische Beobachter sind, ist grundlegend für alles, was wir in der Kosmologie tun. Machen wir sie nicht, können wir keine wissenschaftlichen Schlüsse ziehen”, entgegnet Alex Vilenkin von der Tufts University in Medford, Massachusetts. Insofern ist das Szenario der Boltzmann-Gehirne mehr als nur ein Test für die Plausibilität kosmologischer Hypothesen. Es hilft auch dabei, Modelle zu spezifizieren sowie zu bewerten – und vielleicht sogar dabei, Erklärungen für bislang rätselhafte Phänomene wie den Wert der Dunklen Energie zu finden. Die etablierten Theorien versagen hier nämlich.
Deshalb favorisieren viele Kosmologen die Existenz anderer Universen. Sie wären auch eine Rettung vor der „Invasion der Boltzmann-Gehirne”, wie Andrei Linde von der kalifornischen Stanford University sagt. Er und Alex Vilenkin fanden gute Argumente dafür, dass unser Universum nur eine „Blase” in einem viel größeren Kosmos ist, und dass unendlich viele andere Blasen entstehen. Das folgt aus den populären kosmologischen Modellen von der Ewigen Inflation (bild der wissenschaft 11/2005, „ Inflation der Universen”). In diesem Szenario, so Vilenkin, Linde und andere Forscher, bilden sich viel mehr lebensfreundliche Universen mit typischen normalen Beobachtern als Boltzmann-Gehirne. Dann ist es extrem unwahrscheinlich, dass Sie, lieber Leser, ein Boltzmann-Gehirn sind – allerdings auch sehr wahrscheinlich, dass Sie unendlich viele Doppelgänger haben – ein inflationärer Preis.
Um auszuschließen, dass in ferner Zukunft die Boltzmann-Gehirne dominieren, postuliert der Kosmologe Don Page von der University of Alberta im kanadischen Edmonton eine Art Selbstzerstörungsmechanismus des Universums. Wenn er aktiv wird, bevor die Dunkle Energie alles beherrscht, reicht die Zeit nicht aus, um Boltzmann-Gehirne aus dem Vakuum zu gebären. Ein solcher kosmischer „Neustart” wäre der Kollaps unseres Universums oder ein quantenphysikalischer Übergang des Vakuums in einen niedrigeren Energiezustand. Dafür gibt es plausible Modelle.
Falls die Dunkle Energie zerfällt, breitet sich vom Ort des Übergangs eine fast lichtschnelle Welle der Vernichtung aus. Freilich käme das Ende unserer vertrauten Welt dann schon in naher Zukunft, im kosmischen Maßstab betrachtet: Damit der Vakuum-Zerfall alles in den Abgrund reißt und nicht von der beschleunigten Expansion des Weltraums ausgebootet wird, damit also für die Genesis der Boltzmann-Gehirne weder Zeit noch Raum bleiben, müsste sich der Weltuntergang bereits in 20 Milliarden Jahren vollziehen. ■
von Rüdiger Vaas
KOMPAKT
· Wenn bizarre „Boltzmann-Gehirne” wahrscheinlicher sind als Menschen und das ganze Universum, steckt die Kosmologie in der Krise.
· Vielleicht existieren unendlich viele Universen – oder der Weltuntergang kommt schon in 20 Milliarden Jahren.