Choroideremie – nie gehört? Kein Wunder: Hinter dem Fremdwort steckt eine seltene Erkrankung. Etwa 1000 Männer bekommen die Diagnose hierzulande jährlich von ihrem Augenarzt gestellt. Langsam zerfällt bei ihnen die Netzhaut im Auge. Frauen sind kaum betroffen, denn die Ursache des Übels sind fast immer Mutationen auf dem X-Chromosom: In einem Gen, dem sogenannten CHM-Gen, kommt es zufällig zu einer Veränderung auf einem Basenpaar – oder auf einigen wenigen. Frauen haben bekanntlich zwei X-Chromosomen und können daher den Defekt meist mit der intakten Kopie auf dem anderen Chromosom ausgleichen. Männer mit ihrem einzelnen X-Chromosom sind dazu nicht in der Lage.
Ein Team holländischer und US-amerikanischer Forscher staunte nicht schlecht, als es 2007 bei einem Patienten mit Choroideremie nicht eine einfache Mutation im betroffenen Gen ausmachte. Die Genetiker um Haig H. Kazazian und Frans P. M. Cremers fanden vielmehr ein 6688 Basenpaare langes Zusatzstück DNA mitten im CHM-Gen. Ein springendes genetisches Element, genannt LINE-1, hatte sich dort breit gemacht und blockierte das Gen. Geerbt hatte es der Patient von seiner Mutter, die selbst gesund war. Bereits in der Frühphase der Embryonalentwicklung dieser Frau war es in einer Zelle in den CHM-Bereich auf einem der beiden X-Chromosomen gesprungen. Nach vielen Zellteilungen war es auch in ihren Eizellen gelandet – was am Ende dem Sohn eine Augenerkrankung bescherte. Ein Fall von vielen. Und doch nur ein seltenes Beispiel, bei dem die Aktivität genetischer Elemente in uns sichtbar wird. Wir können froh sein, dass sie nicht noch viel aktiver sind: Springende oder auch mobile genetische Elemente – Wissenschaftler nennen sie manchmal auch „Transposons” – sind so alt wie das Leben selbst. Bakterien haben sie, Pflanzen, Pilze und Tiere – von Insekten bis zum Menschen. Das Markenzeichen der DNA-Schnipsel: Sie nutzen die zelleigene Maschinerie gelegentlich dazu, sich selbst zu kopieren, und die Kopien bauen sich dann an x-beliebiger Stelle im Genom neu ein (siehe Kasten „Transposons des Menschen”). Einige wenige Elemente schneiden sich auch wieder aus der DNA heraus, um weiter zu wandern. Meist wird die Aktivität der Transposons nur erkennbar, wenn sie bereits in Ei- oder Samenzellen von Mutter oder Vater oder während der frühen Embryonalentwicklung gesprungen sind und später beim Kind Schaden anrichten. Vielleicht jedes 20. menschliche Neugeborene, so Schätzungen, kommt mit einer neuen Transposition zur Welt. Meistens allerdings unerkannt: Solange Transposons in Regionen des Genoms landen, die keine Funktion haben, passiert nicht viel. Aber wehe, sie geraten in wichtige Gene: Nicht nur bei Choroideremie, auch bei Hämophilie (Bluterkrankheit) sowie bei Stoffwechsel- und Immunstörungen können Transposons die Ursache sein. Immerhin 0,27 Prozent aller bis dahin bekannten 44 000 Mutationen, die zu Erbkrankheiten führen, gehen auf sie zurück, rechneten US-Wissenschaftler im Jahr 2006 vor.
Wie oft Transposons im Körper eines Erwachsenen zugange sind, ist völlig unklar. „Gehen Sie aber ruhig davon aus, dass ständig einige bei Ihnen unterwegs sind”, meint Oliver Weichenrieder vom Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Und auch hier ist ein Zusammenhang mit Krankheiten belegt. „Die Mobilisation von LINE-1-Elementen kann eine Rolle bei Krebs spielen”, sagt Gerald Schumann vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen.
All das könnte nur die Spitze des Eisbergs sein. Was die Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 zutage förderte, kann auch hartgesottenen Genetikern einen Schauer über den Rücken jagen: Vielleicht fünf Prozent unseres Genoms haben überhaupt eine Funktion. Nur ein bis zwei Prozent der 3,2 Milliarden Basenpaare unserer Erbsubstanz DNA beherbergen jene etwas mehr als 20 000 Gene, die Eiweiße verschlüsseln. Sie galten lange als die Herren im Genom. Diese Sichtweise ist überholt: Mindestens 45 Prozent unseres Genoms gehen auf mobile genetische Elemente zurück – das heißt, sie waren einmal mobil und sind es teilweise noch. „Inseln” in einem Meer von springenden Elementen nennt der US-Forscher Carl W. Schmid unsere Gene. Bei einem derartigen Gehüpfe scheint es ein Wunder, dass wir überhaupt ein funktionierendes Genom haben. Wo kommen die autonomen Rebellen her? Und warum konnten sie sich derart breit machen?
DOMESTIZIERTE SPRINGER
Schon seit ihrer Entdeckung durch Barbara McClintock vor 60 Jahren (siehe Kurzporträt) schwankt die Bewertung der Transposons: zwischen unverzichtbaren „Kontrollelementen” (dafür hielt sie nicht nur McClintock, sondern 1969 auch die US-Forscher Roy Britten und Eric Harris Davidson) bis hin zu schädlichen „ Parasiten” (so 1980 die Briten Leslie E. Orgel und Francis H. C. Crick). Seit Kurzem schlägt das Pendel wieder in Richtung „ nützlich” aus. Denn die Genom-Analysen geben neue Antworten:
· Mobile genetische Elemente sind nicht immer schädlich. Pflanzen, Tiere und Menschen haben manche von ihnen in Millionen Jahren der Evolution als Teil ihrer genetischen Ausstattung „ domestiziert”.
· Erst die chaotische Aktivität der „Springer” erlaubte es Organismen auf lange Sicht, überhaupt jene Vielfalt an genetischer Variabilität hervorzubringen, die nötig ist, um gegenüber der unerbittlichen Selektion zu bestehen – wie es die Evolutionstheorie von Charles Darwin postuliert. Das hat mobilen Elementen ihre Existenz auch im Menschen gesichert – bis heute.
In unserem Genom gibt es gleich mehrere Großgruppen von ihnen (siehe Kasten „Transposons des Menschen”). Die meisten zählen zu den Retrotransposons. Sie lassen von der Zellmaschinerie erst eine RNA-Kopie von sich anfertigen. Dann überschreibt ein spezielles Enzym die RNA wieder in einen DNA-Doppelstrang – und der setzt sich neu im Genom fest (siehe Grafik „Wie das Springen funktioniert”). Das Schlüsselenzym dieses Mechanismus heißt Reverse Transkriptase. Es weist einen Weg zur Erklärung der Herkunft der mobilen Elemente, der geradewegs zu den Ursprüngen des Lebens führt.
ÜBERBLEIBSEL AUS DER RNA-WELT
Denn das Leben auf der Erde entstand aller Wahrscheinlichkeit nach als RNA-Welt. Die Rangfolge der Nukleinsäuren stand vor gut drei Milliarden Jahren, verglichen mit heute, auf dem Kopf: Heute „kommandiert” die DNA in der Zelle. Gene werden bei Bedarf in eine RNA-Kopie überschrieben. Oft werden die Informationen von solch einer Boten-RNA (mRNA) in den Bau von Eiweißen umgesetzt, andere RNAs agieren auch direkt in der Zelle. Vor gut drei Milliarden Jahren sah die Sache anders aus: Kleine RNA-Schnipsel, die sich selbst kopieren konnten, waren die erste Erbsubstanz in einfachsten Zellen. Erst später „erfand” die Evolution als Sicherungskopie der Erbsubstanz die DNA. Ihr Vorzug: Sie ist stabiler als RNA, und bei ihrer Vermehrung schleichen sich nicht so oft Fehler ein. Zum Schlüsselenzym für die Anlage des Backups avancierte die Reverse Transkriptase: Sie ist es, die RNA in DNA umschreiben kann – damals wie heute.
Zu einem frühen Zeitpunkt müssen sich einige RNA-Schnipsel mit dem Code für die Reverse Transkriptase im Schlepptau selbstständig gemacht haben: Das war die Geburt der mobilen genetischen Elemente. „Sie sind das Echo einer Frühphase der Evolution mitten in uns”, kommentiert Jürgen Brosius, Professor für Genetik an der Universität Münster. Zugleich ist klar: Springende Elemente steckten von Anfang an auch in mehrzelligen Organismen. Und das gefürchtete Aids-Virus HIV könnte die späte Ausgeburt springender Elemente sein. Denn HIV gehört zu den Retroviren: Diese Viren haben eine RNA-Erbsubstanz, die sie mit Reverser Transkriptase in DNA überschreiben. Die DNA-Kopie des Virus-Erbguts wird dann in das Genom menschlicher Zellen eingebaut. Verblüffend ist die Ähnlichkeit der Retroviren mit einer bestimmten Klasse von Transposons, den LTR-Retrotransposons.
Retroviren – so eine Idee, die der 1994 verstorbene US-Genetiker Howard Temin entwickelt hat – könnten ursprünglich aus diesen Retrotransposons entstanden sein. Einzelne Transposons hätten demnach die Fähigkeit erlangt, Zellen zu verlassen und andere Organismen zu infizieren. Und aus diesen infektiösen Elementen sei nach Millionen Jahren der Evolution der Killer HIV entstanden. Aber auch eine umgekehrte Entwicklung ist denkbar: Retrotransposons könnten die Relikte eingewanderter Ur-Retroviren sein. So wie HIV heute beim Menschen, haben sich vor Millionen von Jahren andere, damals aktive Retroviren neu in das Genom von Säugetieren integriert und wurden erst nach weiteren Millionen Jahren von ihren Wirten unschädlich gemacht.
Als Humane Endogene Retroviren (HERV) liegen ihre Überbleibsel stillgelegt im menschlichen Genom herum. Meistens jedenfalls – bei einigen Krebspatienten werden die Gene mancher HERV jedoch abgelesen. „Dabei ist unklar, ob die HERV die Ursache der Krankheit sind”, erklärt Gerald Schumann, „oder ob ihre Aktivität eine Begleiterscheinung ist.”
PARASITEN EiNES PARASITEN
Wichtig für unsere Evolution waren zwei andere Großgruppen: Einmal die LINE-Transposons, die den größten Platz im Genom belegen. Mit etwa 500 000 Exemplaren machen allein LINE-1-Elemente 18 Prozent unseres Genoms aus. Auf Platz zwei kommen die Alu-Elemente mit 1,1 Millionen Exemplaren und 10 Prozent Anteil am Genom. Die Alu-Elemente sind Trittbrettfahrer: Sie können gar nicht alleine springen, denn sie produzieren keine Reverse Transkriptase. Sie benutzen das Enzym der LINE-1-Elemente.
In den Zellen tobt ein erbitterter Kampf unter den Transposons um das für sie existenzielle Enzym. Die Gruppe um Oliver Weichenrieder konnte mit aufklären, nach welchen Regeln er ausgefochten wird: Die RNA eines Alu-Elements lauert im Verbund mit Eiweißen direkt an der Proteinfabrik Ribosom darauf, dass dort ein LINE-1-Element seine Reverse Transkriptase produziert. „ Kommt so ein LINE dort an, schnappt ihm Alu das wertvolle Enzym vor der Nase weg und missbraucht es für die eigene Vermehrung”, erklärt Weichenrieder. LINE geht leer aus. „Parasiten eines Parasiten” nannte Carl W. Schmid daher die von ihm entdeckten Alu-Elemente. Gesunde Organismen schauen dem parasitischen Treiben in ihrem Inneren nicht tatenlos zu. Das Arsenal ihrer Abwehrwaffen ist groß. So bilden Drosophila-Fliege wie Mensch, Insekt und Säuger eine eigene Klasse kleiner RNAs, die sich an die Boten-RNA von Transposons heften und deren Zerstörung programmieren. Zellen können Transposons obendrein chemisch stilllegen, indem sie an deren Nukleinsäuren Methylgruppen anheften. Und Primaten haben sogar spezielle Abwehr-Eiweiße entwickelt: Sogenannte APOBEC-Proteine blockieren bei Affe und Mensch die Transposition von LINE-1 und Alu. Primaten haben im Laufe der Evolution Transposons kaltgestellt wie kaum eine andere Tiergruppe. Kennzeichen für Homo sapiens ist Ruhe im Genom. Verglichen mit der Maus oder dem Fadenwurm hat der Mensch eine deutlich niedrigere Aktivität von springenden Elementen.
Doch das war nicht immer so. Vor 100 bis 25 Millionen Jahren, das verraten Genom-Analysen, haben sich LINEs wie Alus massiv in den Genomen unserer tierischen Vorfahren ausgebreitet. Heute können bei uns noch 80 bis 100 LINE-1-Elemente aktiv springen. Und rund 6000 von insgesamt 1,1 Millionen Alus haben das Potenzial, sich mithilfe gekaperter Reverser Transkriptase vermehren zu lassen. „In der Praxis werden es weniger sein. Die genaue Zahl kennen wir nicht”, erklärt Weichenrieder. Die meisten anderen springenden Elemente sind bei uns chemisch stillgelegt, oft verstümmelt und mutiert. „Wir leiden zwar immer noch an ihnen” , sagt Gil Ast von der Tel Aviv University Medical School – dann eben, wenn ein Mensch durch ihre Aktivität erkrankt. Aber verglichen mit dem, was früher los war, ist das nur eine matte Restaktivität. Die große Zeit der springenden Elemente bei Primaten ist vorbei. Mehr noch: Mancherorts üben sich Mensch und Springende Elemente in friedlicher Koexistenz, ja Symbiose, wie die folgenden Beispiele zeigen.
· Stichwort Immunsystem: Zellen unseres Immunsystems bauen in ihrer DNA das Gen für einen speziellen Antikörper aus verteilten Elementen zusammen, indem sie die Zwischenstücke herausschneiden. Jede Zelle baut ihren eigenen Antikörper – so entsteht die enorme Vielfalt an Abwehrmöglichkeiten des spezifischen Immunsystems. Der Schneidevorgang auf der DNA aber hat nicht nur große Ähnlichkeit damit, wie sich ein DNA-Transposon beim Springen aus dem Genom schneidet. Der Enzymkomplex dafür stammt tatsächlich von solch einem Transposon.
· Stichwort Telomerase: Bei jeder Zellteilung werden unsere Chromosomen etwas kürzer – ein von der Natur vorgegebener Alterungsprozess. Damit nicht auch Kinder mit verkürzten Chromosomen geboren werden, füllt in Ei- und Samenzellen ein spezielles Enzym, die Telomerase, die DNA-Enden wieder auf. Dabei nutzt sie einen Mechanismus, der von einem Retrotransposon stammt.
Dennoch reichen solche Einzelverdienste kaum aus, um zu erklären, warum die Evolution die mobilen Elemente bis heute bewahrt hat. Die Nachteile scheinen zu überwiegen. „Meistens passiert nichts, manchmal schaden sie Organismen, und noch seltener kommt per Zufall durch ihre Aktivität etwas Nützliches heraus”, betont Jürgen Brosius. Warum haben Lebewesen nicht den Versuch gemacht, sich von den lästigen Elementen ganz zu befreien?
Die Antwort zeigt das Janusgesicht der Transposons. Ihre für ein Individuum meist zerstörerische Aktivität erhöht auf lange Sicht die Chancen einer Art, zu überleben. Springende Elemente schaffen so gute Voraussetzungen für genetische Variabilität, wie es kein anderer Mechanismus vermag. Sie tun dies zum einen, indem sie Kopien von Genen im Genom verstreuen. Gelegentlich nehmen mobile Elemente bei ihrer Wanderung benachbarte Gene oder Teile von Genen quasi huckepack an einen neuen Ort mit. Zum anderen kann eine Reverse Transkriptase auch manchmal „irrtümlich” die vorbeischwimmende mRNA eines Gens in DNA überschreiben, die sich dann später ins Genom integriert. Mindestens 726 derart entstandener „Pseudogene” nutzt unser Körper.
SPIELWIESE DER EVOLUTION
Denn derart im Genom verstreute Gen-Kopien bieten der Evolution eine Spielwiese: Mit ihnen kann ein Organismus neue Funktionen ausprobieren. Solange die eigentlichen Gene ihre Funktion weiter ausüben, trägt er beim Experimentieren nur geringe Risiken. Wenn eine Spezies allerdings einmal Selektionsstress bekommt – wenn die Temperaturen steigen, die Nahrungsquellen versiegen und quasi über Nacht neue Merkmale gefragt sind –, dann könnte eine neue genetische Eigenschaft nützlich und von der natürlichen Auswahl begünstigt werden. „ Transposons haben geholfen, das genetische Material für die Sprünge in der Evolution zu liefern”, meint Jürgen Brosius. In der Tat hat eine Gruppe um den Japaner Norihiro Okada einen Höhepunkt der Alu- und LINE-1-Aktivität bei Säugern vor 40 bis 50 Millionen Jahren ausgemacht, just zu einer Zeit, als die Auffächerung der höheren Primaten zu vielen neuen Arten stattfand.
Und Alus bringen noch etwas ein: 94 Prozent unserer Gene sind aus Puzzle-Teilen (Exons) zusammengesetzt. Springen Alus in die Nähe, können Gene sie als zusätzliche Exons nützen. Der Clou dabei: „Das Gros der Gen-Produkte entsteht auch hier zunächst weiter wie gewohnt, sodass der Organismus nicht gefährdet ist”, erklärt Gil Ast. Taugt eine Gen-Variante, die ein Alu als neues Puzzlestück enthält, aber besser als alle bisherigen, dann kann sie hochreguliert werden und künftig Standard werden. Analysen von Asts Gruppe zeigen: Transposons haben beim Menschen insgesamt 1824 neue Exons zu Genen beigesteuert, bei der Maus nur 506. Das Gros des Überhangs beim Menschen geht just auf Alus zurück. „Alus haben der Linie, die zu Homo sapiens führte, eine gute Chance gegeben, neue Optionen zu testen”, meint Ast.
GARANTEN DER ANPASSUNG
Stehen Transposons am Ende gar Pate für die Entstehung des Menschen? „Unsere Evolution ist ein stetiges Wechselspiel mit mobilen genetischen Elementen gewesen”, meint Jürgen Brosius vorsichtig. Manchmal werde da zu viel hineininterpretiert. „ Keinesfalls erlauben mobile genetische Elemente eine zielgerichtete Evolution, wie derzeit manchmal zu lesen ist. Darwin ist nach wie vor gültig.” Transposons agieren blind, rein zufällig im Genom. Brosius ist überzeugt: „Die Natur hebt quasi den Müll auf, um die Chance zu haben, später mit dem einen oder anderen Teil doch noch etwas Sinnvolles entstehen zu lassen.” Es ist auf jeden Fall für uns heute von Vorteil, dass Homo sapiens solches „Testen neuer Möglichkeiten” (Ast) weitgehend seinen Vorfahren überlassen hat. Ob und wann die Transpositionsraten bei uns Menschen wieder hochschnellen, weiß niemand. Die medizinischen Folgen wären fatal. Um das zu verhindern, könnten Gen-Therapeuten auf die Idee kommen, das menschliche Genom in Zukunft von Transposons ganz zu reinigen. Davon raten Experten jedoch ab: „Keine gute Idee. Eine Spezies ohne Transposons verliert die Möglichkeit, bei Krisen anpassungsfähig zu sein”, meint Brosius. Da ist es wieder: das Janusgesicht der springenden Elemente. ■
BERNHARD EPPING (links) ist beeindruckt davon, dass unser Genom seinen „Müll” Millionen Jahre aufhebt und neu verwertet. ROLAND FROMMANN hat an zwei arbeitsreichen Tagen in Münster die Transposon-Forscher fotografisch in Szene gesetzt.
von Bernhard Epping (Text) und Roland Frommann (Fotos)
WAS NACH DER LANDUNG PASSIERT
Je nachdem, wo die springenden Gene auf ihrem Ziel-Chromosom landen, hat das unterschiedliche Folgen. Biologen unterscheiden drei Möglichkeiten:
A: Stellen, wo keine Gene sitzen. Folgen für den Organismus: in der Regel keine.
B: Mitten in Genen, wo sie kodierende Sequenzen (Exons) zerstören. Mögliche Folge: ein krankhafter, manchmal tödlicher Gen-Ausfall.
C: Mitten in Genen, aber neben Exons. Es besteht die Möglichkeit, dass sie später in der Evolution selber zu Exons werden, also die Funktion des Gens verändern oder erweitern.
WIE DAS SPRINGEN FUNKTIONIERT
Die meiste Zeit liegen die „springenden Gene” – auch „ Transposons” genannt– still, verstreut auf den Chromosomen. Sie bestehen aus DNA und sind hier rot, blau und orangefarben gekennzeichnet. Der Startschuss ihrer Vermehrung ist die Syn-these von RNA, quasi einer Abschrift der Gene. Die RNA wandert aus dem Zellkern (grau) in das Plasma der Zelle (blau) zu den Ribosomen, den Eiweiß-Fabriken. Diese setzen die genetische Information in Proteine (farbige ovale Strukturen) um.
Anschließend geht es auf verschiedenen Pfaden weiter: DNA-Transposons (rot, 1) springen von einem Chromosomen-Ort an einen anderen. Für den Platzwechsel benötigen sie ein bestimmtes Protein, die Transposase (gelbes Oval), deren Code sie selbst tragen. Nachdem die Transposase aufgebaut ist (2), dockt sie an dem Gen an (3) und schneidet es heraus, sodass es springen kann (4).
LINE-1- (orangefarben) und Alu-Elemente (blau) gehören hingegen zu den Retrotransposons. Bei ihnen wandert die RNA samt benötigter Eiweiße zurück in den Kern (5). Dort schreibt ein spezialisiertes Protein, das Enzym Reverse Transkriptase (grün), die RNA wieder in DNA um (6). Diese DNA baut sich an beliebiger Stelle in ein neues Chromosom ein (7). Im Gegensatz zu den DNA-Transposons (rot), die nur ihren Platz wechseln, haben sich die Retrotransposons (blau, orangefarben) nach dem Springen also vermehrt.
Alu-Elemente (blau) können ihre Eiweiße nicht selber bilden. Sie„stehlen” sie vielmehr am Ribosom von LINE-1 (8). Die RNA von LINE-1 löst sich dann auf (9).
Die pRIMATEN-SIPPSCHAFT
Der Stammbaum der Säugetiere hat sich in den letzten 100 Millionen Jahren stark verzweigt, insbesondere der Ast der Primaten (rot). Verantwortlich dafür waren unter anderem springende Gene, die bis vor 25 Millionen Jahren im Erbgut unserer Vorfahren aktiv waren. Insbesondere zwei Untergruppen– LINE-1- und Alu-Elemente – hatten vor 50 bis 40 Millionen Jahren einen Aktivitäts-Höhepunkt: Damals entstanden viele neue Primaten-Arten. Die Fotogalerie zeigt (von links) Elefant, Großer Maki, Koboldmaki, Totenkopfäffchen, Rhesusaffe, Mensch, Ratte und Ameisenbär als Vertreter ihrer jeweiligen Ordnung.
TRANSPOSONS DES MENSCHEN
Mobile genetische Elemente tummeln sich gleich in mehreren Klassen im menschlichen Genom. Die wichtigsten im Überblick:
· DNA-Transposons: Sie machen mit 300 000 Stück rund drei Prozent unseres Genoms aus. Oft schneiden sie sich selber aus dem Genom heraus, um sich an anderer Stelle neu einzugliedern. Status: beim Menschen keine Aktivität.
· Retrotransposons: Bei ihrer Vermehrung entsteht eine RNA-Kopie, die in Eiweiße übersetzt wird. Erst dann kann das Enzym Reverse Transkriptase, eines dieser Eiweiße, die RNA in DNA umschreiben, die sich an einer neuen Stelle ins Genom integriert. Von ihnen gibt es zahlreiche Untergruppen:
· LINEs: Sie machen mit 850 000 Exemplaren 21 Prozent unseres Genoms aus. Die wichtigsten Vertreter gehören zur Gruppe LINE-1. Status: 80 bis 100 Vertreter von LINE-1 können noch aktiv springen.
· SINEs: Sie sind alleine unfähig zu einem Platzwechsel, da ihnen die Enzyme dafür fehlen. Die wichtigste Gruppe sind die Alu-Elemente mit 1,1 Millionen Vertretern und 10 Prozent Anteil am Genom. Status: Einige Tausend sind „passiv” vermehrungsfähig, indem sie die Reverse Transkriptase von LINEs kapern.
· LTR-Retrotransposons: Sie gelten als moderner und stellen 8,3 Prozent unseres Genoms. Eine Untergruppe, die Humanen endogenen Retroviren (HERV), hat besonders große Ähnlichkeit mit aktiven Retroviren, etwa HIV. Status: beim gesunden Menschen inaktiv. Einige HERV sind mitunter in Tumorgewebe aktiv. Ob sie aber wirklich eine Rolle bei Krebs spielen, ist unklar.
INTERNET
Website von Jürgen Brosius (englisch): zmbe2.uni-muenster.de/expath/frames.htm
Einführung ins Thema Transposons: www.nature.com/scitable/topicpage/Transposons-The-Jumping-Genes-518
Online-Fachbuch zu Retroviren und Retrotransposons: www.ncbi.nlm.nih.gov/books/ bv.fcgi?call=bv.View..ShowTOC&rid=rv.TOC&depth=10
Über Barbara McClintock: profiles.nlm.nih.gov/LL/ www.nature.com/scitable/topicpage/ Barbara-McClintock-and-the-Discovery- of-Jumping-34083
AUSSTELLUNG
VOM FAUSTKEIL ZUM MIKROCHIP Evolution des Menschen LWL-Museum für Naturkunde, Münster (zu sehen bis 11. April 2010)
KOMPAKT
· Springende Gene, einst beim Mais entdeckt, werden wegen ihrer Rolle in der menschlichen Evolution wieder vermehrt erforscht.
· Auf sie geht die Vielfalt unseres Immunsystem zurück, ebenso wie ein Kniff, mit dem der Körper den Alterungsprozess des Erbguts in Ei- und Samenzellen zurückdreht.
· Einige springende Gene sind noch heute aktiv. Sie bilden eine Evolutionsreserve für geänderte Umweltbedingungen.
BARBARA MCCLINTOCK
Die Entdeckerin der „Transposons” ging stets ihren eigenen Weg. „Ich hatte nicht dieses starke Bedürfnis, mit jemandem eng verbunden zu sein … es war nicht notwendig”, erklärte die 1902 geborene US-amerikanische Genetikerin einmal.
Mitte der 1940er Jahre beschrieb sie bei Mais genetische Elemente, die mit einem farbigen Sprenkelmuster auf Maiskörnern zu tun haben. McClintocks geniale Erklärung 1950: Diese Elemente können ihre Lage auf dem Chromosom aktiv verändern. Landen sie dabei durch Zufall in einem Gen, das Maiskörner bei bestimmten Sorten dunkel färbt, bleibt das Gen inaktiv, das Maiskorn wird gelb. Verlassen sie das Gen wieder, kann es seine Arbeit neu aufnehmen: Eine Stelle aus Zelle und Tochterzellen auf dem Maiskorn wird dunkel gefärbt.
Heute steht fest: McClintock hatte DNA-Transposons entdeckt. 1983 erhielt sie den Nobelpreis, neun Jahre vor ihrem Tod. Dass Teile der Fachwelt ihre Arbeit lange Jahre nicht beachteten, liegt auch an McClintocks umstrittener Bewertung der Transposons. Sie würden Gene in Organismen aktiv regulieren, nahm die Forscherin an. Das hat sich nicht bestätigt. Transposons liefern vielmehr einen Rohstoff, aus dem durch Zufall neue Gene und Regulationsmechanismen entstehen können.