Lange Zeit waren Biomoleküle wie Proteine, die DNA oder RNA die großen Unbekannten der Biochemie. Zwar konnten Wissenschaftler mithilfe der Röntgen-Kristallografie auf die Struktur dieser Moleküle schließen, doch diese Aufnahmen zeigen die Biomoleküle nur in kristallisierter, erstarrter Form. Wie sich diese komplexen Verbindungen bewegen und wie sie miteinander interagieren, blieb weitgehend unbekannt. Viele Biomoleküle lassen sich zudem nicht kristallisieren und entzogen sich daher komplett unserer Sicht. Auch die Elektronenmikroskopie eignet sich nur bedingt zur Abbildung solcher Biomoleküle. Denn damit die Strahlen reflektiert werden und so dessen Struktur und Form verraten, muss die Probe aufwändig präpariert, getrocknet und beispielsweise mit Schwermetall-Salzen bedampft werden. Diese Behandlung jedoch verändert viele Biomoleküle und kann sie sogar zerstören.
Zucker und schwache Strahlung
Mit dieser Situation wollte sich der Brite Richard Henderson nicht zufriedengeben. In seinem Labor in Cambridge arbeitete er an einer Methode, mit der er das Fotosynthese-Protein Bacteriorhodopsin sichtbar machen konnte. Seine Idee: Er ersetzte das Wasser in der Proteinlösung durch eine Glucoselösung, die das Molekül im Vakuum des Elektronenmikroskops stabilisierte. Damit die harten Elektronenstrahlen das empfindliche Protein nicht zerstörten, testeten Henderson und seine Kollegen anschließend, wie viele Informationen sich schon mit niedrigeren Strahlendosen gewinnen lassen. Es zeigte sich, dass man durch die Kombination vieler Aufnahmen genügend Daten über die Molekülstruktur sammeln kann, um daraus ein erstes brauchbares Bild zu bekommen. Basierend auf dieser Technik präsentierten Henderson und seine Kollegen 1975 erstmals ein 3D-Modell des Bacteriorhodopsins, das zeigte, wie sich die Proteinkette des Moleküls siebenmal durch die angrenzende Zellmembran wand. Ihre Aufnahmen mit einer Auflösung von 0,7 Nanometern waren das beste Abbild eines Proteins, das jemals mit einem Elektronenmikroskop erstellt worden war. Aber eine Auflösung bis aufs Atom genau war dies noch nicht und nicht für alle Moleküle ließ sich die Zuckerlösung einsetzen.
Kälteschock für Moleküle
Eine Lösung für dieses Problem fand Jacques Dubochet am European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg. Er entdeckte, wie sich Moleküle in wässriger Lösung im Vakuum des Elektronenmikroskops vor dem Austrocken bewahren lassen. Schon vor ihm hatten Forscher versucht, die Proben einfach einzufrieren, doch die Eiskristalle störten die Elektronenstrahlen und damit die Abbildung. Dubochets Lösung dafür: Er kühlte die Moleküllösungen mit flüssigem Stickstoff so schnell und radikal ab, dass sich keine Eiskristalle bilden konnten. Stattdessen erstarrt das Wasser zu einem glasartigen Feststoff, der die Strahlung nicht bricht und dadurch die Abbildung des im verglasten Wasser eingeschlossenen Moleküls ermöglicht. 1984 gelang es Dubochet und seinen Kollegen mit dieser Methode erstmals, Viren in Lösung abzubilden – ein wichtiger Fortschritt für die medizinische Forschung.
Ein Algorithmus macht das Bild scharf
Der letzte Schritt zur Vervollkommnung der Kryo-Elektronenmikroskopie gelang Joachim Frank, der in den 1970er Jahren am US-Gesundheitsministerium forschte. Er entwickelte eine Software, die aus mehreren geringer aufgelösten Elektronenmikroskop-Bildern hochaufgelöste 3D-Bilder erstellen kann. Dem Computer gelingt dies, indem er wiederkehrende Muster in der Molekülstruktur erkennt und kombiniert. Der entscheidende Vorteil daran: Durch diese Auswertung lassen sich die Bildinformationen mehrerer gleicher, zufällig verteilter und ausgerichteter Moleküle kombinieren. Bereits 1981 konnte Frank mit diesen Algorithmen erste hochaufgelöste Aufnahmen von Proteinen erzeugen. 1991 kombinierte der Forscher seine Software mit der Präparationsmethode von Dubochet und konnte so erstmals die Struktur eines Proteins in 3D sichtbar machen.
Inzwischen hat sich durch die Kombination und Verbesserung aller drei Methoden die Kryo-Elektronenmikroskopie stark weiterentwickelt. Seit 2013 können damit Proteine und andere Biomoleküle bis auf das Atom genau abgebildet werden – und dies in Momentaufnahmen, die die Moleküle mitten in der Bewegung oder in Aktion einfrieren. “Diese Methode hat die Biochemie in eine neue Ära geführt”, sagt das Nobelpreis-Komitee. “Denn ein Bild ist oft der Schlüssel zum Verständnis.”