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Bakterielle „Piratenschiffe“ im Visier

Mikrobiologie

Bakterielle „Piratenschiffe“ im Visier

Video: Ein Aureispira-Bakterium schnappt sich Opfer-Zellen. Die zweite Video-Sequenz zeigt Querschnitte und ein 3D-Modell, die das Eindringen des “Schusssystems” in die Beute verdeutlichen. © Yun-Wei Lien

Auch die „Seeräuber“ der Mikroben-Welt nutzen offenbar Enterhaken und Kanonen für den Beutefang: Forschende haben Einblicke in das Waffensystem eines räuberischen Meeresbakteriums gewonnen. Die rabiaten Winzlinge fangen und fixieren ihre mikrobiellen Opfer demnach durch Haken-besetzte Anhängsel. Anschließend werden sie dann durch eine Art Bolzenschusssystem erledigt und ausgebeutet. Möglicherweise könnte man die Raub-Bakterien oder ihr raffiniertes Waffensystem für das Umweltmanagement oder die Medizin nutzen, sagen die Forschenden.

Meist stehen die Räuber der Tierwelt im Fokus: Vom Löwen bis zum Hai haben Lebewesen der unterschiedlichen Ökosysteme der Welt faszinierende Beutefang-Konzepte hervorgebracht. Neben den tierischen Räuber-Beute-Systemen existieren allerdings auch Versionen, die sich vergleichsweise schwer erkennen lassen: Auch im Mikrokosmos gibt es Jäger und Gejagte. Es ist bekannt, dass bestimmte Bakterienarten durch teils raffinierte Strategien andere Mikroben erbeuten. Bei räuberischen Bakterien, die im Meer leben, haben Forschende dabei bereits ein Konzept entdeckt, das als Ixotrophie bezeichnet wird: Bei mikroskopischen Untersuchungen zeigte sich, dass die Opfer an den Räubern klebenzubleiben scheinen – wie Insekten an einem Fliegenfänger. Anschließend werden sie dann von dem Jäger verspeist. Wie genau dieser Mechanismus allerdings funktioniert, ist bisher unklar geblieben.

Dem Waffensystem auf der Spur

Um das Konzept genauer zu untersuchen, haben die Forschenden um Yun-Wei Lien von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) nun das räuberische Bakterium Aureispira als Modell ins Visier genommen. Es handelt sich dabei um eine fadenförmige Mikrobe, die im Meer unter anderem sogenannte Vibrio-Bakterien erbeutet. Das Team hat die Aureispira-Bakterien bei der Jagd auf diese Opfer durch mehrere Bildgebungsverfahren untersucht. Neben der Lichtmikroskopie kam auch die Kryo-Elektronenmikroskopie zum Einsatz. Diese Methode ermöglicht es, winzige Strukturen im zellulären Kontext zu fixieren und zu analysieren. Mit einer Weiterentwicklung des Verfahrens waren darüber hinaus Einblicke in den Feinbau der molekularen Eiweißstrukturen möglich, aus denen die Funktionseinheiten des Bakteriums bestehen.

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Zunächst konnte das Team durch die mikroskopischen Aufnahmen dokumentieren, dass die Aureispira-Bakterien wie Piratenschiffe in ihrem Jagdgebiet unterwegs sind: Haben sie Vibrio-Bakterien „gesichtet“, bewegen sie sich auf sie zu, docken an, halten die normalerweise beweglichen Opfer fest und töten sie schließlich ab. Wie die genaueren Untersuchungen aufdeckten, ist dieser Ablauf tatsächlich auch im Detail von „Seeräuber-Techniken“ geprägt: Die Forschenden haben bei Aureispira molekulare Strukturen entdeckt, die wie Enterhaken aussehen und auch entsprechend eingesetzt werden. Zudem verfügt das Bakterium über eine Art Bolzenschusssystem, das wie Kanonenfeuer fungiert. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes kontraktiles Injektionssystem, das schon bei anderen Bakterien entdeckt wurde, erklären die Forschenden.

Darstellung der zellulären sowie molekularen Struktur der Enterhaken. © Yun-Wie Lien / ETH Zürich

Auf Kaperfahrt mit Enterhaken und Kanonen

Bei den „Enterhaken“ handelt es sich um fadenförmige Gebilde, die von der Zelloberfläche der Aureispira-Bakterien ausgehen und mit einer Verankerungsstruktur am Ende versehen sind. Beim „Kapern“ ergreifen diese Strukturen die Fortbewegungsorgane des Opfers – die feinen Geißeln. Dadurch wird die Beute gebunden und kann nicht mehr fliehen, erklären die Forschenden. Anschließend feuert Aureispira dann seine „Kanonen“ ab: Durch Kryo-Elektronenmikroskopie konnten die Forschenden detailliert dokumentieren, wie die Bolzenschuss-Einheiten Löcher in die Hülle der Opfer schlagen. Durch weitere Analysen konnten sie dabei auch nachweisen, wie die Räuber die Vibrio-Bakterien ausbeuten: Sie nehmen die austretenden Zellsubstanzen als Nahrung auf. „Die ganze Szene ähnelt damit einem Piratenüberfall auf ein anderes Schiff“, sagt Seniorautor Martin Pilhofer von der ETH.

Die „Piraterie“ ist bei den Mikroben allerdings aus der Not geboren, geht aus weiteren Ergebnissen der Forschenden hervor: Wie sich zeigte, begeben sich die Aureispira-Bakterien nur auf Raubzüge, wenn sie hungrig sind. Reicht die Versorgung mit Nährstoffen in ihrer Umgebung dagegen aus, verzichten sie sogar auf die Ausrüstung mit Enterhaken und Kanonen. Diese fakultativ räuberische Lebensweise spiegelt sich dabei auch in der Aktivität bestimmter Gene wider, stellten die Forschenden fest. Diese Erbanlagen, auf denen das Ixotrophie-Konzept offenbar beruht, konnte das Team auch bei anderen marinen Bakterien nachweisen. „Die Ixotrophie könnte somit eine übersehene, aber entscheidende Rolle für die Ernährung von Bakterien in heterogenen aquatischen Umgebungen und bei der Bildung mikrobieller Populationen spielen“, schreiben die Autoren.

Neben dieser Bedeutung für die Grundlagenforschung könnten die Ergebnisse allerdings auch praktisches Anwendungspotenzial besitzen, sagen die Forschenden. Denn von bestimmten räuberischen Bakterien ist bekannt, dass sie einzellige Cyanobakterien jagen, die giftige Blaualgen-Blüten in Gewässern verursachen können. Möglicherweise lassen sich die Piraten-Bakterien also zur Prävention von Massenvermehrungen problematischer Mikroben einsetzen. Weiteres Potenzial steckt zudem in dem Bolzenschusssystem: Es gibt bereits Ideen, diese Waffen mit Wirkstoffen zu beladen. So könnten die Mikroben sie möglicherweise im Auftrag der Medizin in Zellen injizieren.

Quelle: ETH Zürich, Fachartikel: Science, doi: 10.1126/science.adp0614

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