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Sie gehörte einst zur Megafauna des Amazonasgebiets: Paläontologen berichten über eine fossile Süßwasserschildkröte, die eine Panzerlänge von fast zwei Metern erreichte. Die Art war damit deutlich größer als alle heutigen Vertreter dieser Gruppe der Schildkröten. Die Datierung des Fossils auf den Übergang vom Pleistozän zum Holozän legt nahe, dass die Riesenschildkröte erst nach der Ankunft des Menschen im Amazonasgebiet verschwand. Somit scheint eine Rolle der Bejagung bei ihrem Aussterben möglich, sagen die Forschenden.
Die Rüstung ist ihr Markenzeichen: Die Schildkröten sind eine sehr alte und ausgesprochen erfolgreiche Gruppe der Reptilien. Im Verlauf ihrer Evolutionsgeschichte haben sie zahlreiche Vertreter hervorgebracht, die sich viele unterschiedliche Lebensräume der Erde erobern konnten – von den Wüsten und Wäldern bis zu den Meeren und Süßgewässern. Die Schildkröten bildeten dabei viele unterschiedliche Untergruppen, Formen und Größen aus. Unter den Bewohnerinnen des Süßwassers gilt die Schmalköpfige Weichschildkröte (Chitra chitra) Südostasiens mit bis zu 140 Zentimetern Panzerlänge als die größte heutige Art. Den Rekord in Südamerika hält die bis zu rund einen Meter lange Flussschildkröte Podocnemis expansa. „Auch aus der Vergangenheit kennen wir nur wenige in Süßgewässern lebende Schildkrötenarten, die eine Panzerlänge von 150 Zentimetern überschritten haben“, sagt Erst-Autor Gabriel Ferreira von der Universität Tübingen.
Goldgräber stoßen auf einen „fossilen Schatz“
Doch nun konnten Ferreira und seine Kollegen den wenigen bekannten Riesen-Süßwasserschildkröten ein neues Beispiel hinzufügen. Wie die Forschenden berichten, sind Goldgräber im „Taquaras“-Steinbruch nahe der brasilianischen Stadt Porto Velho auf das Relikt des spektakulären Reptils gestoßen. Es handelt sich um einen Unterkiefer, dessen Ausmaße die Entdecker erstaunte.
So gelangte der Fund schließlich in die Hände des internationalen Expertenteams. Ferreira und seine Kollegen unterzogen den rund 30 Zentimeter langen Unterkiefer einer genauen morphologischen Analyse und bestimmten sein Alter mittels Radiokarbondatierung.
Wie die Forschenden berichten, ging aus den Befunden und Vergleichen mit heutigen Schildkrötenarten hervor: Der Unterkiefer stammt von einer allesfressenden Schildkrötenart, die den Merkmalen zufolge mit der noch heute im Amazonasgebiet lebenden Dickkopf-Amazonas-Schildkröte (Peltocephalus dumerilianus) verwandt war. Der Kiefer dieser maximal 50 Zentimeter großen rezenten Art lieferte den Paläontologen Hinweise darauf, wie groß ihr urzeitlicher Verwandter gewesen sein könnte. Die Schätzung ergab, dass das Exemplar wohl eine Panzerlänge von etwa 180 Zentimeter besessen hat. Die Forscher gaben der neuen Art den Namen Peltocephalus maturin – in Anlehnung an die fiktive Riesenschildkröte „Maturin“ aus Romanen des berühmten Autors Stephen King.
Jagdbeute des Menschen?
Doch bis wann war diese Riesen-Süßwasserschildkröte noch im Amazonasgebiet unterwegs und warum könnte sie ausgestorben sein? Wie das Team berichtet, konnte die Radiokarbondatierung das Alter des Fossils auf 14.000 bis 9000 Jahre eingrenzen. Diese zeitliche Einordnung legt dabei nahe, dass die Art noch zeitgleich mit den ersten Menschen in Südamerika existierte, bevor sie verschwand. Daraus lässt sich wiederum ein Verdacht ableiten: Könnte der Mensch durch eine Bejagung zum Aussterben von Peltocephalus maturin beigetragen haben?
„Bereits vor etwa 12.600 Jahren besiedelten Menschen das Amazonasgebiet. Wir wissen zudem, dass Schildkröten seit dem Paläolithikum auf dem Speiseplan von Homininen standen“, sagt Ferreira. Auch heute noch werden im Amazonasgebiet Süßwasserschildkröten und auch ihre Eier verzehrt. Es scheint somit möglich, dass auch Peltocephalus maturin auf diese Weise von Menschen genutzt wurde – und mit der Belastung vielleicht besonders schlecht zurechtkam. Auch beim Aussterben anderer Vertreter der südamerikanischen Megafauna in der gleichen Ära wurde bereits eine Rolle des Menschen vermutet.
„Die Möglichkeit, dass Peltocephalus maturin zu den Arten gehörte, die im Zusammenhang mit der Ankunft des Menschen ausstarben, ist faszinierend“, schreiben die Autoren. Doch wie sie betonen, bleibt dies bisher eine Hypothese. Dazu sagt Ferreira abschließend: „Um sie zu untermauern, benötigen wir nun weitere Daten aus den spätpleistozänen und frühholozänen Ablagerungen des Amazonasbeckens“, so der Paläontologe.
Quelle: Universität Tübingen, Fachartikel: Biol. Lett. doi: 10.1098/rsbl.2024.0010