Bereits vor rund 52 Millionen Jahren wiesen Fledermäuse eine erstaunliche Artenvielfalt auf. Das belegt ein gut erhaltenes Fossil aus Wyoming – das älteste bisher gefundene vollständige Skelett einer Fledermaus. Einer Studie zufolge ist das Fossil keiner der beiden Arten zuzuordnen, die früher an dem Fundort entdeckt wurden. Stattdessen handelt es sich um eine neue Art, der die Forschenden den Namen Icaronycteris gunnelli gaben. Der Fund deutet darauf hin, dass sich die Fledermäuse in Amerika getrennt von Verwandten in anderen Teilen der Welt entwickelt haben.
Mit rund 1460 lebenden Arten machen Fledermäuse rund ein Fünftel aller Säugetierarten aus. Mit Ausnahme der Polarregionen sind sie weltweit verbreitet und besiedeln eine Vielzahl von Lebensräumen und ökologischen Nischen. Die frühesten Nachweise von Fledermäusen stammen aus dem frühen Eozän vor 56 bis 47,6 Millionen Jahren. In dieser Zeit verbreiteten sie sich über Nordamerika, Europa, Afrika, Asien und Australasien. Die meisten Fossilien bestehen allerdings lediglich aus einzelnen Zähnen – vollständige Skelette sind selten.
Neue Art aus bekannter Fundstätte
Das wahrscheinlich älteste vollständige Skelett hat nun ein Team um Tim Rietbergen vom Naturalis Biodiversitätscenter in Leiden in den Niederlanden beschrieben. Entdeckt wurde das Exemplar bereits 2017 von einem privaten Sammler, der es später an das American Museum of Natural History in New York verkaufte. „Das Fossil stammt aus der Green-River-Formation in Wyoming und unterscheidet sich durch eine Kombination von Merkmalen von anderen Fledermausarten des Eozäns“, berichten Rietbergen und sein Team.
Seit den 1960er Jahren ist die Green-River-Formation als Fundort von Fledermausfossilien bekannt – mehr als 30 Exemplare wurden dort bereits entdeckt. „Aber interessanterweise wurden die meisten Exemplare aus dieser Formation als Vertreter einer einzigen Art, Icaronycteris index, identifiziert, bis vor etwa 20 Jahren eine zweite Fledermausart entdeckt wurde, die zu einer anderen Gattung gehört“, erklärt Co-Autorin Nancy Simmons vom American Museum of Natural History, die 2008 selbst an der Beschreibung der damals neu entdeckten Art beteiligt war. „Ich habe immer vermutet, dass es dort noch mehr Arten geben muss“, sagt sie.
Einzigartige Kombination von Merkmalen
Um herauszufinden, ob weitere Arten in der Region vertreten waren, sammelten Rietbergen und sein Team Daten von zahlreichen Museumsexemplaren und katalogisierten ihre Merkmale. „Paläontologen haben viele Fledermäuse gesammelt, die als Icaronycteris index identifiziert wurden, und wir haben uns gefragt, ob es unter diesen Exemplaren vielleicht mehrere Arten gibt“, so Rietbergen. „Dann erfuhren wir von einem neuen Skelett, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.“ Tatsächlich stellte das Forschungsteam fest, dass das neue Skelett kleiner war als alle zuvor in der Green-River-Formation gefundenen Exemplare. Zudem wies es an den ersten beiden Flügelgliedern Krallen sowie an den Flügelgliedern drei bis fünf ein winziges verknöchertes drittes Fingerglied auf, kombiniert mit breiten Flügeln und kurzen, robusten Hinterbeinen – eine bisher einzigartige Kombination von Merkmalen. Auch das Gebiss unterschied sich von dem bisher bekannter Arten.
Die Forschenden kamen daher zu dem Schluss, dass es sich um eine neue Art handelt, der sie den Namen Icaronycteris gunnelli gaben, zu Ehren des Paläontologen Gregg Gunnell, der viel zur Evolution der Fledermäuse geforscht hat. Auch ein weiteres Fossil, das bereits 1994 entdeckt wurde, ließ sich der neu beschriebenen Art zuordnen. Das genaue Alter der Fossilien ist unklar. Die zuvor ältesten Exemplare aus der Green-River-Formation wurden auf etwa 52,5 Millionen Jahre datiert. „Eines der Exemplare von I. gunnelli wurde in einer tieferen Schicht der Sektion gefunden als alle anderen Fledermäuse, was bedeutet, dass diese Art älter ist als alle anderen Fledermausarten, die aus dieser Lagerstätte geborgen wurden“, erklärt Co-Autor Arvid Aase vom Fossil Butte National Monument in Wyoming.
Alt, aber nicht primitiv
An der Fundstelle befand sich einst ein See, auf dessen Grund sich nach und nach vulkanische Asche und hauchdünne Kalksteinschichten abgelagert haben, in denen viele Fossilien konserviert sind. „Die Ablagerung in Küstennähe ist schneller als in der Seemitte, die Schätzung der Ablagerungsraten erschwert. Solange keine zuverlässigen Ablagerungsraten ermittelt wurden, gibt es keine verlässliche Möglichkeit, das genaue Alter der Exemplare zu bestimmen“, so die Forschenden. „Die relative stratigraphische Position dieser Fossilien deutet jedoch darauf hin, dass es sich um die ältesten Fledermaus-Skelette handelt, die bisher weltweit gefunden wurden.“
Dennoch weisen die Fossilien von I. gunnelli weniger primitive Merkmale auf als andere Exemplare. Zudem kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass alle drei in der Green-River-Formation gefundenen Fledermausarten eine eigene Klade bilden, die sich von den bekannten archaischen Fledermauslinien der Alten Welt unterscheidet. Die Forscher schließen daraus, dass sich die Fledermäuse während des frühen Eozäns rasch weltweit verbreiteten und auf mehreren Kontinenten unabhängig voneinander entwickelten. „Dies ist ein Schritt nach vorn, um zu verstehen, was in der Frühzeit der Fledermäuse in Bezug auf Evolution und Vielfalt geschah“, so Simmons.
Quelle: Tim Rietbergen (Naturalis Biodiversitätscenter, Leiden, Niederlande) et al., PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0283505