Als im Mai diesen Jahres die neue Auflage des US-Psychiatriehandbuchs DSM erschien, war die Aufregung groß. Zu den schärfsten Kritikern der aktuellen Ausgabe zählt der Psychiater Allen Frances, der an früheren Versionen des Standardwerkes mitgearbeitet hatte. Er fürchtet, dass dank neuer Diagnosekriterien zahllose Kinder, die früher schlicht als schwierig galten, nun für krank erklärt und mit Tabletten abgefüttert würden. Und das, obwohl die Auswirkungen vieler Psychopharmaka auf die Entwicklung des Gehirns von Kindern oft noch ungeklärt sind.
Frances’ Sorge ist nicht unberechtigt. Selbst anerkannte Verhaltensstörungen werden immer häufiger diagnostiziert. Die Krankenkasse Barmer GEK stellte fest, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, zwischen 2006 und 2011 um fünfzig Prozent zunahm. Besonders die Vier- bis Siebenjährigen waren betroffen.
Um herauszufinden, wie sich die Zahl der psychiatrischen Diagnosen und die Einnahme von Psychopharmaka bei den ganz Kleinen entwickelt hat, analysierten Forscher vom Cincinnati Children’s Hospital nun Daten zu Arztbesuchen von mehr als 43.000 US-amerikanischen Kindern im Alter von zwei bis fünf Jahren. Für den Zeitraum zwischen 1994 und 2009 errechneten sie, welche Störungen die behandelnden Ärzte wie häufig festgestellten und welche Substanzen sie verschrieben.
Die Warnungen der FDA zeigen Wirkung
Die Ergebnisse stellen sie nun in der Fachzeitschrift “Pediatrics” vor. Erwartungsgemäß stieg die Zahl der Diagnosen stetig an: Zwischen 1994 und 1997 wurden bei rund zwölf von 1.000 Kindern Verhaltensstörungen festgestellt. Im letzten Zeitraum von 2006 bis 2009 traf es bereits rund 19 von 1.000 Kindern. Die beliebteste Diagnose lautete ADHS, gefolgt von “Disruptive Behaviour”, einer Störung des Sozialverhaltens. Mit großem Abstand auf Platz Drei landeten tiefgreifende Entwicklungsstörungen, zu denen etwa Autismus zählt.
Erstaunlicherweise führte die steigende Zahl der Diagnosen aber nicht dazu, dass die Ärzte häufiger Rezepte für Psychopharmaka aushändigten. Deren Einsatz erreichte zwischen 2002 und 2005 seinen Höhepunkt, als 1,45 Prozent aller kleinen Patienten ein entsprechendes Medikament verordnet bekamen. Zwischen 2006 und 2009 sank der Wert wieder auf ein Prozent und damit nahezu auf das Niveau der späten Neunziger Jahre.
Das bedeutet: Selbst für denjenigen Kleinkinder, die für krank erklärt wurden, verringerte sich in den letzten Jahren der Studie die Wahrscheinlichkeit, Pillen schlucken zu müssen. Vilawan Chirdkiatgumchai und sein Team vermuten, dass die sinkenden Verschreibungszahlen mit dem Verhalten der US-Arzneimittelbehörde FDA zusammenhängen. 2004 warnte diese vor einem erhöhten Selbstmordrisiko durch Psychopharmaka, 2005 vor Kreislaufstörungen durch Amphetamine und 2006 vor Herzproblemen durch Stimulazien. Auch die Chirdkiatgumchai und seine Kollegen mahnen zur Vorsicht. Angesichts der möglichen Folgen psychotropher Medikamente für die Hirnentwicklung seien Studien zu deren Langzeitfolgen bei kleinen Kindern “von entscheidender Bedeutung”.