Typischerweise reagieren die Ozeane nur langsam auf Klimaveränderungen. Doch es gibt auch Ausreißer: Marine Hitzewellen, die die Wassertemperaturen tage- oder wochenlang ungewöhnlich in die Höhe treiben. Jetzt haben Forscher festgestellt, dass solche überraschenden Ausreißer-Temperaturen in den Meeren sogar stärker zugenommen haben als erwartet – Tendenz weiter steigend. Für die Meeresökosysteme und die Menschen an den Küsten könnte dies langfristig schwerwiegende Folgen haben. Denn die verbreitete Strategie, sich auf vergangene Erfahrungen zu verlassen, ist unter diesen Umständen eher kontraproduktiv, wie die Wissenschaftler im Modell feststellten.
Sowohl wir Menschen als auch Tiere und Pflanzen sind das Produkt vergangener Erfahrungen. Sie haben zur Anpassung der Lebensweise und der körperlichen Funktionen an die jeweilige Umwelt geführt. “Implizit in diesem natürlichen, rückwärtsgewandten Ansatz ist die Erwartung, dass die vergangenen Bedingungen Rückschlüsse über die zukünftigen Bedingungen erlauben”, erklären Andrew Pershing vom Gulf of Maine Institute in Portland und seine Kollegen. “Mit anderen Worten: Die Systeme sind an die durchschnittlichen Bedingungen und ihre typische Variabilität angepasst. Doch wir bewegen uns rapide in eine Welt, in der diese Annahme nicht mehr gilt.” Denn der Klimawandel bringt Veränderungen der Umwelt mit sich, mit denen viele dieser klassischen Anpassungsstrategien nicht mehr Schritt halten können. Immer wieder treten beispielsweise Temperaturen auf, für die es keine historischen Präzedenzen gibt.
Temperatur-Ausreißer im Visier
In den Ozeanen äußern sich solche “Ausreißer” unter anderem in marinen Hitzewellen – plötzlichen Schüben anomal hoher Wassertemperaturen, die mehrere Tage oder sogar Wochen lang anhalten können. Weil diese Wärmeschübe die historischen Erfahrungswerte sowohl der Natur als auch des Menschen überschreiten, können sie schwere Folgen nach sich ziehen. Dazu gehören das Absterben ganzer Korallenriffe durch Korallenbleiche, massenhafte Vermehrung schädlicher Algen, aber auch der Kollaps der Fischerei. Pershing und sein Team haben nun untersucht, ob und wie sich die Häufigkeit solcher Ausreißer-Bedingungen in den Ozeanen verändert hat und welche Folgen dies für Natur und Mensch hat. Sie definieren dabei die von ihnen als “Temperatur-Überraschung” bezeichneten Ausreißer als Abweichungen von mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert der jeweils letzten 30 Jahre.
Für ihre Studie analysierten die Forscher Meerestemperatur-Daten für 65 große, weltweit verteilte marine Ökosysteme in der Zeit von 1854 bis 2018. “Bei diesen 65 Ökosystemen erwarteten wir, dass sechs oder sieben von ihnen pro Jahr solche Temperatur-Überraschungen erleben würden”, sagt Pershing. Stattdessen jedoch ergaben die Auswertungen eine deutliche Zunahme der Ausreißer in den letzten Jahrzehnten. “Vor 1940 war es selten, dass mehr als drei Meeresgebiete im gleichen Jahr eine solche Temperatur-Überraschung erlebten”, so die Forscher. “Doch als die globale Erwärmung sich beschleunigte, begann auch die Zahl der Temperatur-Ausreißer anzusteigen.” Zwischen 1999 und 2018 gab es demnach bereits in 48 der 65 Meeresökosysteme solche Ereignisse. In der Arktis und dem Atlantik beobachteten die Forscher eine anhaltende Zunahme, im Indischen Ozean und im Pazifik blieben die Häufigkeiten bis 2010 fast gleich, stiegen dann aber ebenfalls deutlich an.
Welche Folgen hat dies für Systeme?
“Unsere Analysen belegen damit, dass die Häufigkeit von überraschenden Temperaturereignissen in den Ozeanen zugenommen hat und dies auch in Zukunft weiter tun wird”, sagen Pershing und sein Team. “Diese Ereignisse haben das Potenzial, sowohl die Ökosysteme als auch die mit ihnen verknüpften menschlichen Systeme zu stören.” Welche Folgen die Ausreißer-Temperaturen haben könnten, untersuchten die Forscher daher mithilfe mehrerer Modellsimulationen. Dabei simulierten sie zum einen die Reaktion verschiedener Tierarten in einem marinen Modellökosystem, zum anderen verglichen sie zwei Strategien menschlicher Entscheider. Die eine basierte auf historischen Daten und Erfahrungen, die zweite verließ sich auf Klimaprognosen.
Das Ergebnis: Bei den marinen Ökosystemen führt eine zunehmende Häufung von Ausreißer-Bedingungen dazu, dass Spezialisten mit eher engen Toleranzbereichen und Lebensweisen immer weniger werden. Generalisten mit einem breiten Toleranzbereich für Temperaturen kommen dagegen besser klar. Insgesamt könnte dadurch die Artenvielfalt und Produktivität der Meeresökosysteme abnehmen, wie die Forscher berichten. Für menschliche Systeme wie beispielsweise die Fischerei oder Krabbenzucht erwies sich unter den Bedingungen des Klimawandels und der zunehmenden Ausreißer die prognoseorientierte Strategie als überlegen. “Die rückwärtsschauende Strategie schneidet nur dann besser ab, wenn der Trend zu mehr Ausreißern schwach oder die jährliche Schwankungsbreite hoch ist”, berichten Pershing und sein Team. Doch diese Schwelle sei schon jetzt bei zwölf der 65 Meeresökosysteme überschritten.
“Für das menschliche System sind die Lehren klar: Historische Erfahrungen werden weniger relevant. Um erfolgreich zu sein, müssen Institutionen, darunter Unternehmen, Gemeinden, Managementagenturen und Regierungen, sich Strategien aneignen, die nach vorn statt nach hinten schauen”, betonen die Forscher.
Quelle: Andrew Pershing (Gulf of Maine Institute, Portland) et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.1901084116