Ist keine direkte Messung möglich, muss man schätzen – im Fall der Schmelzprozesse der global bedeutenden Gezeitengletscher könnten die Einschätzungen allerdings deutlich daneben gelegen haben, geht nun aus einer Studie hervor. Durch Sonar-Untersuchungen haben Forscher erstmals die Schmelzprozesse im Unterwasserbereich eines Gezeitengletschers direkt erfasst – mit überraschendem Ergebnis: Der Gigant schmilzt dort mit Raten, die um zwei Größenordnungen höher liegen als es den Modellen entspricht. Möglicherweise wurde das Ausmaß des aktuellen Eisverlustes der Gezeitengletscher und somit ihre Rolle beim globalen Meeresanstieg bisher falsch eingeschätzt.
Wie gigantische gefrorene Flüsse transportieren sie das Festlandeis ins Meer – an ihren Zungen produzieren die Gezeitengletscher dann Eisberge. Bei vielen dieser Giganten handelt es sich gleichsam um die Abflüsse der mächtigen Eisschilde Grönlands, Alaskas oder der Antarktis. Klar ist: Im Zuge des Klimawandels ziehen sich die Küstengletscher auf der ganzen Welt zurück. Dadurch spielen sie eine wichtige Rolle beim globalen Meeresspiegelanstieg. Darüber hinaus können sie durch den Zufluss an Schmelzwasser auch die Meeresströmungen verändern, die wiederum großen Einfluss auf das Weltklima besitzen.
Als ein wichtiger Faktor für den Rückzug der Küstengletscher gilt seit langem das erhöhte Abschmelzen in den Unterwasserbereichen an den Wasserfronten der Eisgiganten. Bisher gab es zu den entsprechenden Prozessen allerdings erstaunlicherweise keine direkten Beobachtungsdaten. Das hatte vor allem praktische Gründe – Bohrungen sind nicht möglich und die Frontbereiche sind gefährlich: “Gezeitengletscher kalben und verhalten sich sehr dynamisch, da will man nicht zu nah mit einem Boot hinfahren”, sagt Dave Sutherlan von der University of Oregon.
Passt die Theorie zur Realität?
Die meisten früheren Annahmen über die Schmelzprozesse beruhten deshalb auf theoretischen Modellen und Theorien zur Vorhersage der Schmelzraten. “Sie gehören in unserem Forschungsbereich zum Standard”, sagt Co-Autorin Rebecca Jackson von der Rutgers University. “Die theoretischen Ansätze werden in Gletschermodellen verwendet, um beispielsweise Fragen nachzugehen, wie die Gletscher reagieren, wenn sich der Ozean um ein oder zwei Grad erwärmt. Inwieweit die Modelle allerdings tatsächlich den realen Abläufen am Gletscher entsprechen, wurde bisher nie überprüft. Dies haben die Forscher nun am Beispiel des LeConte-Gletschers in Alaska nachgeholt.
Im Rahmen ihrer Studie setzten sie mehrstrahliges Sonar ein, um die Ozean-Eis-Grenzfläche des Gletschers im August 2016 sechsmal und im Mai 2017 fünfmal von einem Schiff aus zu scannen. Das Sonar ermöglichte es dem Team, aus vergleichsweise sicherer Entfernung große Bereiche des Unterwassereises abzubilden und zu analysieren. Die Wissenschaftler erfassten zudem Temperaturdaten, Salzgehalte und Wasserbewegungen, um Rückschlüsse auf den Schmelzwasserfluss zu ermöglichen. Darüber hinaus erfassten sie die Entwicklung der Kalbung des Gletschers durch Langzeitaufnahmen. Konkret suchten sie dann nach Veränderungen in den Schmelzmustern, die zwischen den August- und Mai-Messungen auftraten. So wurde deutlich: Die Messergebnisse passten nicht zu den bisherigen Theorien. Der Gigant schmilzt demnach mit Raten, die um zwei Größenordnungen höher liegen als bisher gedacht.
Grundannahmen stehen nun in Frage
Den Forschern zufolge steht nun die Frage im Raum: Inwieweit ist der LeConte-Gletscher repräsentativ für andere Gezeitengletscher? „Vor dem Hintergrund, dass sich die bisherige Theorie in diesem Fall so deutlich als ungenau erwiesen hat, sollten wir den Einsatz des bisherigen Modells bei der Untersuchung von Gezeitengletschern nun sehr skeptisch betrachten“, sagt Jackson. “Unsere Ergebnisse stimmen auch mit mehreren kürzlich durchgeführten Studien bei anderen Gletschern überein, die indirekt darauf schließen lassen, dass die Theorie das Schmelzen bisher unterschätzt hat. Unterm Strich zeichnet sich nun deutlich ab, dass wir unsere Grundannahmen überdenken müssen, was diesen Prozess unter Wasser auf der ganzen Welt betrifft”, so die Wissenschaftlerin.
Ihr Kollege Sutherland betont abschließend die Bedeutung der Studie und den Bedarf an weiteren Untersuchungen: “Der zukünftige Anstieg des Meeresspiegels wird in erster Linie davon bestimmt, wie viel Eis in den Eisdecken gespeichert bleibt. Um diesbezügliche Modellierungen zu verbessern, müssen wir mehr über den Ort des Schmelzens und die damit verbundenen Rückkopplungen wissen: Wir müssen uns auf die Ozean-Eis-Grenzflächen konzentrieren, da dort die Prozesse ablaufen, die hinter dem schnellen Eisverlust stecken“, resümiert der Wissenschaftler
Quelle: University of Oregon, Fachartikel: Science, doi: 10.1126/science.aax3528