In den vergangenen 150.000 Jahren enthielt der Arktische Ozean zweimal reines Süßwasser, als er durch Eismassen von den anderen Meeren weitgehend getrennt war. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommen Forscher auf der Grundlage der geochemischen Untersuchung von Sedimenten. Wie sie erklären, flossen die Wassermassen am Ende dieser Perioden vermutlich schwallweise in den Nordatlantik ab. Diese plötzlichen Süßwasser-Einströme könnten Licht auf abrupte Klimaschwankungen werfen, deren Ursachen bisher unklar sind.
An Land zeugen vielerorts Findlinge, Urstromtäler und die Endmoränen der Gletscher von der Existenz gewaltiger Eisschilde, die sich in den Kältephasen der letzten 150.000 Jahre im Norden der Erde ausgebreitet haben. Doch wie sah zu diesen Zeiten die Situation in den Meeresgebieten des hohen Nordens aus? Im Gegensatz zum Land fehlen deutliche Spuren der Bedeckung des Arktischen Ozeans mit schwimmendem Schelfeis. Um Informationen zu gewinnen, haben die Forscher um Walter Geibert vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) nun Sedimentbohrkerne aus verschiedenen Gebieten des Arktischen Ozeans sowie aus der Framstraße und dem Europäischen Nordmeer untersucht. Wie sie erklären, bilden die geschichteten Sediment-Ablagerungen die arktische Klimageschichte der zurückliegenden Eiszeiten ab und anhand von geochemischen Analysen sind Rückschlüsse auf die einstigen Bedingungen an den Probeorten möglich.
Keine Spur von Salzwasser
Wie Wissenschaftler berichten, geht aus ihren Ergebnissen hervor: Die schwimmenden Ausläufer der nördlichen Eisschilde bedeckten den ganzen Arktischen Ozean im Rahmen der Weichsel-Eiszeit vor 70.000 bis 60.000 Jahren und ein zweites Mal im Laufe der sogenannten Saaleeiszeit vor 150.000 bis 130.000 Jahren. Das besonders überraschende Ergebnis war allerdings: In beiden Zeiträumen sammelte sich unter den mehr als 900 Meter dicken Eismassen offenbar so viel Süßwasser an, dass es den Arktischen Ozean und das Europäische Nordmeer komplett prägte. „Mit diesen Ergebnissen stellen wir die bislang geltende Vorstellung von der Geschichte des Arktischen Ozeans im Eiszeitklima auf den Kopf“, sagt Geibert.
Grundlage dieser Schlussfolgerung bildete das Fehlen eines Isotops in den Schichten der beiden Zeiträume: „Im salzhaltigen Meerwasser entsteht durch den Zerfall von natürlichem Uran immer das Isotop Thorium-230. Es lagert sich am Meeresboden ab und ist dort wegen seiner Halbwertzeit von 75.000 Jahren auch für sehr lange Zeit nachweisbar“, erklärt Geibert. Geologen nutzen das Thorium-Isotop deshalb als einen Zeitmesser. „Diesmal aber gibt uns sein wiederholtes und vor allem weit verbreitetes Fehlen einen entscheidenden Hinweis: Die einzig plausible Erklärung dafür ist unseres Wissens nach, dass der Arktische Ozean zweimal in seiner jüngeren Geschichte nur mit Süßwasser gefüllt war – in flüssiger und in gefrorener Form“, sagt Co-Autorin Jutta Wollenburg vom AWI.
Doch wie konnte das riesige Ozeanbecken aussüßen, das doch über mehrere breite Verbindungen mit dem Nordatlantik und dem Pazifischen Ozean verknüpft ist? Den Forschern zufolge ist dies durch den damals tiefer liegenden Meeresspiegel und die Barrierefunktion des Eises erklärbar. „Ein solches Szenario erscheint plausibel, wenn wir davon ausgehen, dass der globale Meeresspiegel während der Eiszeiten bis zu 130 Meter tiefer lag als heute und die Schelfeise auf dem Arktischen Ozean den Austausch der Wassermassen bremsten“, erklärt Co-Autor Rüdiger Stein vom MARUM Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen.
Durch Land- und Eismassen isoliert
Konkret waren demnach flache Meerengen wie im Bereich der Beringstraße oder der Sunde im kanadischen Archipel damals trockengefallen und schieden damit als Zu- und Abfluss aus. Im Europäischen Nordmeer blockierten vermutlich auf dem Meeresboden aufliegende Gletscherzungen oder Eisberge einen großräumigen Abfluss des Süßwassers, erklären die Forscher. Gespeist wurde das riesige Süßwasserreservoir im arktischen Ozeanbecken ihnen zufolge von der sommerlichen Eisschmelze und den nach Norden verlaufenden Flüssen. Ein Teil dieser Wassermassen strömte vermutlich durch die wenigen Verbindungen im Grönland-Schottland-Rücken über das Europäische Nordmeer in den Nordatlantik und verhinderte dadurch den Einstrom von Salzwasser. So konnte sich der Arktische Ozean nach und nach mit Süßwasser füllen.
„Als der Mechanismus der Eisbarrieren allerdings versagte, konnte das schwere Salzwasser schließlich wieder in den Arktischen Ozean eindringen“, sagt Geibert. „Wir glauben, dass es dann bei seinem Einstrom das leichtere Süßwasser rasch nach oben verdrängte, sodass sich die gespeicherten Süßwassermengen ab einem gewissen Punkt über den flachsten Rand des Europäischen Nordmeeres – den Grönland-Schottland-Rücken – in den Nordatlantik ergossen“, so der Wissenschaftler.
Wie er und seine Kollegen erklären, könnten ihre Ergebnisse und Erklärungsansätze nun auch Licht auf die Ursachen für bisher unklare Klimaphänomene und Meeresspiegelstände in der Vergangenheit werfen. Denn die plötzlichen Freisetzungen von Süßwasser könnten abrupte Schwankungen verursacht haben. „Wir sehen hier, dass es auch in der jüngeren Erdgeschichte entscheidende Kipppunkte des Erdsystems rund um die Arktis gab. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen und zu überprüfen, ob unsere neue Vorstellung vom Arktischen Ozean hilft, weitere Wissenslücken zu schließen, gerade auch in Bezug auf die Risiken des menschengemachten Klimawandels“, sagt Geibert abschließend.
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-021-03186-y