Die Bildung von Organen bei der Embryonalentwicklung ist ein wahrer Multitasking-Prozess: Das Gewebe wächst und nimmt eine bestimmte Form an. Gleichzeitig benötigt jedes Organ eine genaue Anzahl an Zellen und muss auch funktionell so aufgebaut werden, dass es seine Aufgaben ohne Fehler erfüllen kann. Bisher war wenig darüber bekannt, wie es Embryos gelingt, all diese verschiedenen Entwicklungen räumlich und zeitlich zu koordinieren. Nun haben Wissenschaftler des Instituto Gulbenkian de Ciência, Portugal, und des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden eine interessante Entdeckung gemacht.
Das Forscherteam studierte die Netzhaut von Embryos des Zebrabärblings und menschliche Netzhaut-Organoide, kleine Retina-ähnliche Strukturen, die sie kontrolliert aus menschlichen Zellen wachsen ließen. Beide Systeme ermöglichen es, die Organisation und das Wachstum des Gewebes in Echtzeit zu beobachten, da sie klein und lichtdurchlässig sind. Mittels Lichtscheibenmikroskopie und neuester Bildverarbeitungstechnik basierend auf Künstlicher Intelligenz erhielten die Forscher erste Einblicke in das zelluläre Verhalten der Netzhaut von Wirbeltieren während ihres Wachstums.
Dabei konnten die Wissenschaftler beobachten, wie eine gesamte Population von Fotorezeptoren zeitweise ihren Platz wechselte und dabei den Ort im Gewebe verließ, an dem sie später ihre Funktionen erfüllen muss. Durch diese aktive Bewegung schufen die Nervenzellen Raum für neuankommende Vorläuferzellen, welche sich in dem freigewordenen Bereich teilten und so weitere Zellen produzierten, die später zur Netzhaut beitrugen. Wurde die Bewegung der Fotorezeptoren blockiert, kam es zu einem Zellstau, der die Vorläuferzellen dazu zwang, sich an einem falschen Ort zu teilen und zu Gewebefehlbildungen führte. Ohne den vorübergehenden Umzug der Fotorezeptoren war also die Entstehung einer gesunden Retina nicht möglich.
„Das ist ein spannendes Migrationsphänomen, bei dem sich Nervenzellen fortbewegen, nur um sich anschließend wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückzubewegen“, meint Mauricio Rocha-Martins, Erstautor der Studie vom MPI Dresden. „Es zeigt, dass neuronale Migration, im Gegensatz zu bisherigen Annahmen der Wissenschaft, nicht nur Nervenzellen an den richtigen Platz bewegt, sondern auch direkt eine Rolle bei der Koordination der Organentwicklung spielt.“
Die Gleichzeitigkeit von Wachstum und der Ausrichtung des Organaufbaus auf zukünftige Aufgaben kennzeichnet die Entwicklung fast aller Organe. So kann ausgehend von den neuen Forschungsergebnissen untersucht werden, ob andere Organe ähnliche Zellmechanismen nutzen. Zudem zeigen die Erkenntnisse von Neuem, dass eine fehlerhafte Nervenzellwanderung zu großen Schäden führen kann. Sie war beispielweise bereits als Grund für schwere Gehirnfehlbildungen beim Menschen bekannt. Umso wichtiger wird nun die Erforschung der Interaktion von Zellen für das Verständnis der Ursachen menschlicher Entwicklungsstörungen.