Im Himalaya finden sich einige der tiefsten und eindrucksvollsten Schluchten der Erde. Am Übergang von den Hochebenen Tibets ins Tiefland überwinden Flüsse Höhenunterschiede von Tausenden von Metern und haben sich dabei tief in das Gebirge eingegraben. “Die spektakulärste und bekannteste dieser Schluchten ist die Tsangpo-Schlucht im Ost-Himalaya”, erklären Ping Wang vom chinesischen Institut für Geologie in Peking und seine Kollegen. Hier stürzt der als Yarlung Tsangpo bezeichnete Oberlauf des Brahmaputra durch eine gewundene Schlucht insgesamt zwei Kilometer in die Tiefe. “Infolge des starken Gefälles schneidet sich der Fluss hier sehr schnell ein”, erklärt Koautor Dirk Scherler vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam. “Jährlich wird hier bis zu einem Zentimeter Gestein abgetragen, das entspricht aber etwa auch der jährlichen tektonischen Hebungsrate.” Denn der Himalaya wächst auch heute noch stetig in die Höhe, aufgewölbt durch die Kollision der Landmassen Indiens und Asiens.
Wie diese berühmte Tsangpo-Schlucht aber einst entstand, war bisher unklar. Denn normalerweise graben sich Flüsse durch Erosion nicht nur tief ein, sie fressen sich dabei auch weit in das Plateau hinein. Dadurch ist ihr Gefälle zwar steil, aber relativ gleichmäßig abfallend. Doch beim Yarlung Tsangpo ist das nicht das Fall, das Gefälle hat einen deutlichen Knick und es gibt nur wenig Hinweise auf eine bis ins Oberland hineinragende Erosion. Deshalb werden unter Geologen andere Theorien diskutiert. Nach einer davon bildete sich die Schlucht, nachdem der Oberlauf des Brahmaputra seinen Lauf änderte, eine andere geht davon aus, dass erst die rapide Erosion durch den Fluss das Gestein so weit schwächte, dass sich das Gestein anfing zu heben.
Flussgeröll spricht für plötzlichen Wandel
Um die Geschichte des Yarlung Tsangpo zu erforschen, entnahmen Wang und seine Kollegen oberhalb der Schlucht fünf Bohrkerne entlang des Flusses. Dabei zeigte sich Überraschendes: Statt einer dünnen Sedimentschicht auf festem Untergrundgestein fanden sie eine mehr als 500 Meter dicke Schicht aus altem Flussgeröll. “Ich war extrem überrascht, als meine Kollegen mir diese Ergebnisse zeigten”, sagt Koautor Jean-Philippe Avouac vom California Institute of Technology. Denn das bedeute, dass sich der Yarlung Tsangpo vor mehr als drei Millionen Jahren noch tief in das tibetische Hochplateau eingegraben haben muss. Er unterlag demnach einst dem ganz normalen Prozess der fluvialen Erosion. Doch wie Isotopen-Datierungen der Sedimente zeigen, änderte sich dies vor rund 2,5 Millionen Jahren plötzlich: Die Fließgeschwindigkeit im Oberlauf des Yarlung Tsangpo nahm stark ab, so dass nun statt der abtragenden Erosion die Ablagerung von Sediment die Oberhand bekam.
“Das ist die Zeitperiode, in der das Namche Barwa Massiv begann, sich tektonisch zu heben”, erklärt Scherler. Der von der Nordwanderung Indiens erzeugte Druck führte in dieser Periode dazu, dass Teile des Himalayas besonders schnell anstiegen, darunter auch dieses Massiv, das heute den oberen Abschluss der Tsangpo-Schlucht bildet. Diese neue, von der Plattentektonik erzeugte Barriere wirkte wie ein natürlicher Damm und bremste den Lauf des Wassers. “Der Durchfluss muss sich um mehr als das Vierfache verringert haben”, berichten die Forscher. Dadurch lagerte sich oberhalb der Schlucht Sediment ab und glich den vorherigen tiefen Einschnitt aus. So fließt das Wasser heute bis zur Oberkante der Tsangpo-Schlucht langsam und fast eben, bis es dann plötzlich umso steiler in die Tiefe rauscht. Wie die Wissenschaftler erklären, entstand die ungewöhnliche Form der Schlucht daher nicht durch eine Verlagerung eines früheren Flusses, sondern an Ort und Stelle – durch die Einwirkung der Plattentektonik.