Die Anomalocarididen gelten als die Riesen des Kambrium: Vor mehr als 500 Millionen Jahren bevölkerten diese bis zu zwei Meter langen Mehrzeller die Urozeane. Die meisten von ihnen trugen zwei lange, gegliederte Greifer am Kopf, mit denen sie ihre Nahrung zum Mund beförderten. Leistungsfähige Komplexaugen, die auf Stielen seitlich am Kopf saßen, ermöglichten es den Meeresräubern, ihre Beute aufzuspüren. Der flache, gegliederte Körper mit seitlichen Lappenfortsätzen machte sie zudem zu guten Schwimmern. Ihr gegliederter Körper und die Anhänge legen nahe, dass diese urtümlichen Wesen mit den heutigen Gliederfüßern verwandt sein müssen. Wie allerdings, blieb bisher strittig. “Seit vielen Jahren versuchen Paläontologen nun schon herauszufinden, wie die verschiedenen Anhänge der kambrischen Fossilien zueinander passen und welchen Gliedmaßen der heutigen Arthropoden sie entsprechen”, erklärt Koautor Gregory Edgecombe vom Natural History Museum in London. Das Problem dabei: Nur anhand der äußeren Merkmale ist dies kaum möglich, denn oft lässt sich erst an den Nervenbahnen erkennen, worum es sich genau handelt.
Das hat sich nun geändert: Peiyun Cong von der Yunnan Universität in Kunming und seine Kollegen entdeckten bei Ausgrabungen in der chinesischen Provinz Yunnan ein weiteres Anomalocarididen-Fossil. Dieses ist zwar nur rund acht Zentimeter lang und damit eher klein für diese Tiergruppe, dafür aber ungewöhnlich gut erhalten. Wegen seiner bestachelten Anhänge tauften die Paläontologen diese bisher unbekannte Art Lyrarapax unguispinus – stachelklauiger, leierförmiger Prädator. “Lyrarapax gehört zu den vollständigsten Anomalocarididen, die wir jemals entdeckt haben”, sagt Cong. Als die Forscher das Fossil im Labor näher untersuchten, stellten sie fest, dass sogar das Gehirn und die Nervenbahnen in den beiden Mundanhängen noch zu erkennen waren. Erstmals erhielten die Paläontologen damit einen genaueren Einblick in das Gehirn und Nervensystem eines der ältesten Raubtiere der Erde.
Verblüffende Ähnlichkeiten mit stummelfüßigem Wurm
“Es zeigte sich, dass der Top-Prädator des Kambrium ein sehr viel weniger komplexes Gehirn hatte als einige seiner Beutetiere”, berichtet Seniorautor Nicholas Strausfeld von der University of Arizona. “Stattdessen ähnelt es überraschend stark einer Gruppe heute lebender wurmartiger Tiere.” Diese Stummelfüßer oder Onychophoren gelten als primitive Schwestergruppe der Gliederfüßer. Sie tragen ebenfalls zwei Anhänge vorne am Kopf und ernähren sich räuberisch. Typisch für ihr Nervensystem sind das vor dem Mund liegende Gehirn und ein Nervenknoten, der vor dem Sehnerv direkt an der Basis der beiden Mundanhänge liegt. “Und genau dies haben wir auch in unserem Fossil gefunden”, sagt Strausfeld. Damit sind die Anomalocarididen wahrscheinlich entfernte Verwandte der wurmähnlichen Onychophoren, sie gehören damit zwar zur erweiterten Verwandtschaftsgruppe der Gliederfüßer, nicht aber zu derem engeren Kreis.
Diese Erkenntnis wirft auch ein neues Licht auf die Tierwelt im kambrischen Urmeer. Denn damit existierten dort vor rund 520 Millionen Jahren nahezu zeitgleich Vorläufer gleich dreier heutiger Arthropodengruppen. Der im Jahr 2012 entdeckte Ur-Gliederfüßer Fuxianhuia protensa besaß bereits ein komplexes Gehirn mit dreigliedrigem Aufbau und ähnelt damit den heutigen Insekten und Krebsen. Ein Jahr später stießen Paläontologen auf Megacheira, ein Ur-Gliedertier, das als ältester bekannter Vorfahre der heutigen Spinnen und Skorpione gilt. Jetzt kommt noch Lyrarapax dazu, der den Onychophoren ähnelt. “Schon vor 520 Millionen Jahren haben die grundlegenden Gehirntypen dieser drei Gruppen offenbar schon nebeneinander existiert, so Strausfeld. Dies belegt erneut, dass viele “Erfindungen der Natur” ihren Ursprung schon in dieser frühen Phase der Mehrzeller-Evolution haben.