Sonntag, 14. April 1912, 23:40 Uhr Bordzeit. Auf der Titanic schlafen die meisten Passagiere bereits, nur auf der Brücke hat der erste Offizier Dienst. Seine Aufgabe: Den Luxusdampfer sicher durch die Gewässer vor der Küste Labradors lenken. Wenig später ist es passiert: Nur 500 Meter direkt voraus sichtet der Ausguck einen großen Eisberg – zu spät. Alle Manöver helfen nichts mehr: Der zehntausende Tonnen schwere Eisberg rammt den Dampfer und reißt seine Bordwand auf rund 90 Metern Länge auf. Gegen eine solche klaffende Wunde sind selbst die Schutzschotts der Titanic machtlos. Innerhalb von knapp zweieinhalb Stunden läuft das Schiff voll und sinkt – mehr als 1.500 Menschen sterben in den eisigen Fluten des Nordatlantiks. Über den Ablauf dieser tragischen Ereignisse ist heute einiges bekannt. Über die Vorgeschichte eines der Hauptbeteiligten – des Eisbergs – wird aber auch nach hundert Jahren noch diskutiert.
Die strittige Frage: Gab es im Jahr 1912 wirklich besonders viele Eisberge auf dem Kurs der Titanic? Und wenn ja, warum? Erst vor zwei Jahren postulierten Donald Olson von der Texas State University und seine Kollegen dazu eine “kosmische” Erklärung: Drei Monate vor dem Unglück standen Mond und Sonne nicht nur in einer Linie, sondern beide waren auch der Erde besonders nah. Ihre kombinierte Schwerkraftwirkung soll eine Springflut ausgelöst haben, die entlang der Küsten Labradors und Neufundlands besonders viele Eisberge mobilisierte. Diese trieben dann allmählich nach Süden und sammelten sich im April 1912 ausgerechnet im Gebiet der atlantischen Schiffsrouten zwischen New York und Europa.
Geburt im Südwesten Grönlands
Grant Brigg und David Wilton von der University of Sheffield haben dieses Szenario nun noch einmal überprüft. Sie ermittelten dafür zunächst möglichst genau die wahrscheinliche Größe des Titanic-Eisbergs. Aus Beschreibungen von Augenzeugen ging hervor, dass der Eisberg 10 bis 30 Meter hoch aus dem Wasser ragte und gut 120 Meter lang war. Auf Basis von Modellen errechneten die Wissenschaftler, dass der Eisberg rund 90 bis 185 Meter Tiefgang hatte und rund 20.000 Tonnen schwer gewesen sein muss. “Wenn ein Eisberg auf dem 42. Breitengrad noch immer mehr als 100 Meter groß ist, muss er als gewaltiger Koloss von einem grönländischen Küstengletscher gekalbt sein”, erklären Brigg und Wilton. Mit Hilfe eines Modells der Meeresströmungen und Temperaturen des Nordatlantiks rekonstruierten die Forscher dann die wahrscheinliche Herkunft und den Driftweg des Eisbergs.
Der Eisberg, der die Titanic versenkte, muss demnach bereits im Herbst 1911 an der Südwestküste Grönlands gekalbt sein. Erst im Laufe seiner sechsmonatigen Drift verlor er dann an Substanz. Damit aber hätte er seine Drift südwärts bereits drei Monate vor dem astronomischen Ereignis begonnen, das Olson und seine Kollegen als Hauptursache sehen. “Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein verstärktes Kalben an wenigen Tagen im Winter, wenn die Fjorde ohnehin noch durch Meereis blockiert sind, der Grund für das erhöhte Eisbergrisiko sein soll”, konstatieren die Forscher.
Eisbergrisiko heute sogar noch höher
Ihre Untersuchungen deuten stattdessen darauf hin, dass die Küstengletscher Grönlands im Herbst 1911 tatsächlich besonders stark kalbten. Schuld daran seien aber nicht die Gestirne, sondern das Klima. Denn drei Jahre zuvor hatte es ein ungewöhnlich warmes und schneereiches Jahr für Grönland gegeben. “Wir glauben, dass Schnee und Tauwasser allmählich durch die Risse in der Eisdecke sickerten und sich an deren Rändern sammelten”, erklären die Wissenschaftler. Im Laufe der Zeit führte dies dazu, dass die Küstengletscher schneller gen Ozean rutschten und mehr Eisberge kalbten – darunter wohl auch den Koloss, der die Titanic versenkte. Er war bei seiner Entstehung vermutlich 500 Meter lang, 300 Meter tief und wog 75.000 Tonnen.
Zumindest eines aber bestätigen die Analysen von Brigg und Wilton: 1912 war tatsächlich ein Jahr mit besonders hohem Eisbergrisiko auf den nördlichen Schiffsrouten. “1038 Eisberge wurden beobachtet, die den 48. Breitengrad nach Süden überquerten – das ist ungewöhnlich”, so die Forscher. Allerdings: 1912 war in dieser Hinsicht weder das schlimmste noch das letzte Jahr. Durch die Klimaerwärmung schmilzt die Eisdecke Grönlands immer schneller ab, dadurch erreichte die Eisbergdichte auf den Schiffsrouten seit 1991 mehrfach ähnlich hohe und sogar höhere Werte als 1912. “Das Eisberg-Risiko wird in der Zukunft eher ansteigen als sinken”, warnen die Wissenschaftler. Immerhin einen Trost gibt es dabei: Dank Eispatrouillen, Radar und Satellitenaufnahmen können heutige Passagierschiffe Eisberge sehr viel besser und früher erkennen und umgehen.