Bislang müssen sich Erdbebenexperten mit kurzfristigen Warnsignalen begnügen: Technische Frühwarnsysteme erkennen die kurze Zeitspanne zwischen dem für Menschen noch nicht spürbaren Beginn eines Bebens und den ersten gefährlichen Erdstößen präzise. Die verbleibende Zeit kann dann zum Beispiel dafür genutzt werden, Kraftwerke abzuschalten oder Menschen zu evakuieren. Doch dabei muss es schnell gehen – oft bleiben nur wenige Minuten bis der Boden wackelt. Langfristig arbeiten Wissenschaftler mit Prognosen, die sie unter anderem aufgrund der geologischen Geschichte eines Gebietes erstellen. Diese bestimmen jedoch nur eine Bebenwahrscheinlichkeit und sind alles andere als genau. Erdbeben präzise und zugleich lange im Voraus vorhersagen zu können ist deshalb eine der wichtigsten Bestrebungen von Geophysikern – bisher scheint sie unmöglich.
Auf der Suche nach verlässlichen Bebenvorboten sind Forscher immer mal wieder auf mögliche Indikatoren im Grundwasser gestoßen. So scheint sich die chemische Zusammensetzung des Wassers zu wandeln, bevor ein Erdbeben auftritt. Ob diese Veränderungen tatsächlich mit dem Beben zusammenhängen, konnten sie jedoch nie beweisen. Dazu fehlten aussagekräftige Daten – bis jetzt. Ein Team um den schwedischen Geowissenschaftler Alasdair Skelton von der Universität Stockholm liefert nun eine Auswertung, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen veränderter Wasserchemie und Unruhen im Erdinneren nahelegt.
Chemische Anomalien
Zwischen 2008 und 2013 analysierten Skelton und seine Kollegen wöchentlich die Geochemie des Grundwassers, das sie einem Bohrloch in Nordisland entnahmen. Dabei untersuchten sie unter anderem die Häufigkeit stabiler Isotope und die Konzentration bestimmter Elemente im Wasser. Vier bis sechs Monate vor einem Erdbeben der Stärke 5,6 im Oktober 2012 stellten sie plötzlich fest, dass sich die chemische Zusammensetzung des Wassers veränderte. Die gleiche Beobachtung machten sie einige Monate später, vor einem Beben der Stärke 5,5 im April 2013. Insbesondere veränderte sich der Anteil stabiler Wasserstoffisotope. Außerdem änderten sich die Konzentrationen von Calcium, Natrium und Silicium.
Weil die Untersuchungen der Forscher detailliert sind und vor allem einen langen Zeitraum umfassen, ist mit den gewonnenen Daten eine statistische Auswertung möglich. Sie zeigt: tatsächlich hängen die beobachteten Anomalien statistisch gesehen mit den Erdbeben zusammen. Eine Erklärung für dieses Phänomen haben die Wissenschaftler auch: Durch die Ausdehnung der Erdkruste, die durch die sich aufbauenden Spannungen im Erdinneren entsteht, werden neue Gesteinsoberflächen dem zirkulierenden Wasser ausgesetzt, aus denen sich chemische Elemente lösen. Durch die Bewegungen könnten zudem Bestandteile des Grundwassers durchmischt werden, die zuvor getrennt waren.
Potential für die Bebenvorhersage
Zukünftige Studien, so hoffen Skelton und sein Team, könnten den Wert ihrer Beobachtungen für die Erbebenvorhersage weiter untersuchen und bestätigen: „Wir glauben, dass diese Prozesse nicht nur an der von uns untersuchten Stelle in Island auftreten. Sondern dass ähnliche Veränderungen auch anderswo stattfinden”, schreiben sie in der Fachzeitschrift Nature Geoscience. Auch andere Experten halten die Erkenntnisse der Forscher für schlüssig – so zum Beispiel die Geowissenschaftler Steven Ingebritsen und Michael Manga. In einem Kommentar in dem Fachblatt schreiben sie: „Die Beobachtungen von Skelton und seinen Kollegen sind triftig genug, um weitere Untersuchungen zu veranlassen.” Nur systematische Langzeitstudien könnten zeigen, wo und unter welchen Bedingungen Unregelmäßigkeiten in der Grundwasserchemie auftreten. Und welche chemischen Bestandteile des Wassers sich als zuverlässige Indikatoren für ein erhöhtes Erdbebenrisiko eignen könnten.