Kalte, interstellare Molekülwolken sind Bildungsorte von Sternen und Planetensystemen – auch das Sonnensystem entstand einst in einer solchen Wolke. Jetzt haben Astronomen erstmals in das eisige Zentrum einer solchen Wolke geblickt und mithilfe des James-Webb-Weltraumteleskops die dort vorhandenen Elemente und Moleküle identifiziert. Die Spektraldaten enthüllen die Präsenz von Schlüsselelementen aller Lebensbausteine, die dort als Wasser-, Methan- und Stickstoffeis, aber auch als komplexere organische Moleküle vorliegen. Dies liefert erste Einblicke in die chemischen Rohstoffe, die schon zu Beginn der Stern- und Planetenbildung in den “Urwolken” vorhanden sind.
Am Anfang neuer Sterne und Planetensysteme steht eine interstellare Wolke aus kalten molekularen Gasen und eisüberzogenem Staub. Wenn das dichte, kühle Gas solcher Wolken unter seiner eigenen Schwerkraft kollabiert, entstehen in ihrem Zentrum neue Sterne. Um diese rotiert eine Scheibe aus Gas und Staub, die den Nährboden für neue Planeten bildet. Schon länger vermuten Astronomen und Planetenforscher, dass diese protoplanetaren Scheiben nicht nur die Rohstoffe für die Planeten und ihre Gashüllen enthalten, sondern auch erste chemische Vorläufer für die Bausteine des Lebens – Biomoleküle, die die Grundlage aller Zellen und Organismen bilden. Als besonders produktives Medium für die chemischen Reaktionen, durch die solche Vorläufermoleküle entstehen, gilt dabei die Eisschicht der interstellaren Staubkörnchen in den kalten Molekülwolken. Doch welche Elemente und Moleküle im Zentrum dieser Wolken vorkommen, ließ sich bisher nur in Teilen bestimmen, weil der Staub die Sicht versperrt.
Spektren enthüllen eisige Moleküle
Mithilfe des James-Webb-Weltraumteleskops ist es nun einem Astronomenteam um Melissa McClure von der Universität Leiden gelungen, den Bestand dieser eisigen Lebensbausteine in einer dunklen Molekülwolke zu erfassen. Dafür nahmen sie mit dem Teleskop die 630 Lichtjahre von der Erde entfernte Molekülwolke Chameleon I ins Visier, in der gerade Dutzende neuer Sterne entstehen. “Die unterschiedlichen Eismoleküle erkennen wir anhand ihres sogenannten Absorptionsspektrums. Diesen chemischen Fingerabdruck hinterlassen sie im Hintergrundsternenlicht, welches durch die Wolke hindurch auf das Teleskop scheint”, erklärt Co-Autorin Maria Drozdovskaya von der Universität Bern. “Nur mit den hochpräzisen Infrarot-Spektrographen (NIRSpec und MIRI) des Webb, die Strahlung dieser Wellenlängen exakt detektieren und aufschlüsseln können, waren diese Messungen möglich.”
Das Ergebnis ist eine erste Bestandsaufnahme der eisigen Lebensbausteine im Zentrum einer interstellaren Molekülwolke. “Dies ist das erste Mal, dass Forschende in der Lage waren, die Zusammensetzung sogenannter prästellarer Eissorten nahe dem Zentrum einer Molekülwolke zu untersuchen”, sagt McClure. Die Spektraldaten ergaben, dass der eisüberzogene Staub im Zentrum von Chameleon I wie erwartet große Anteile von Wassereis sowie von gefrorenem Kohlendioxid und Kohlenmonoxid enthält. Außerdem finden sich dort neben gefrorenem Ammoniak und Methan auch die Stickstoffverbindung Cyanat (OCN) und die Schwefelverbindung Carbonylsulfid (OCS), wie die Astronomen berichten. Auch komplexere organische Moleküle konnten sie im Zentrum von Chameleon I nachweisen, darunter die Alkohole Methanol und Ethanol, sowie die Kohlenwasserstoffe Aceton und Acetaldehyd. “Die Identifizierung von komplexeren organischen Molekülen wie Methanol und wahrscheinlich Ethanol deutet darauf hin, dass die sich in dieser Wolke entwickelnden Sterne und Planetensysteme schon relativ weit entwickelte Chemikalien erben werden”, sagt McClures Kollege Will Rocha.
Schlüsselelemente des Lebens
Damit haben die Astronomen wichtige Schlüsselelemente des Lebens in der kalten Molekülwolke nachgewiesen: Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel, englisch auch als CHONS abgekürzt, sind die Rohstoffe, aus denen nahezu alle Biomoleküle aufgebaut sind. “Diese Elemente sind wichtige Bestandteile präbiotischer Moleküle wie einfacher Aminosäuren – und damit sozusagen Zutaten des Lebens”, erklärt Co-Autorin Maria Drozdovskaya von der Universität Bern. Das Vorkommen selbst komplexerer organischer Moleküle spricht nach Ansicht des Forschungsteams zudem dafür, dass Vorstufen von präbiotischen Molekülen im Weltall keine Ausnahme, sondern eher die Regel sind. “Dies könnte bedeuten, dass das Vorhandensein präbiotischer Moleküle in Planetensystemen ein häufiges Ergebnis der Sternentstehung ist und nicht nur ein einzigartiges Merkmal unseres Sonnensystems”, sagt McClure.
Allerdings werfen die Messergebnisse auch Fragen auf. Denn die anhand der Spektren nachgewiesenen Elementmengen sind gemessen an der Dichte der Wolke eigentlich zu gering. Wie das Team erklärt, könnte dies darauf hindeuten, dass die Elemente und Moleküle nicht nur in den eisigen Bestandteilen der Molekülwolke vorkommen, sondern auch im Staub selbst. “Die Tatsache, dass uns ein Teil des CHONS-Budgets ‘fehlt’, könnte bedeuten, dass CHONS etwa in felsigen Staubpartikeln eingeschlossen sind”, erklärt McClure. Das Team hat im Rahmen seines Projekts “Ice Age” bereits weitere Beobachtungen mit dem James-Webb-Teleskop geplant. “Dies ist nur der erste in einer ganzen Serie von spektralen Schnappschüssen, die wir erstellen wollen”, erklärt McClure. “Sie sollen uns zeigen, wie sich diese Eise von ihrer anfänglichen Entstehung bis in die kometenbildenden Regionen der protoplanetaren Scheiben entwickeln.”
Quelle: Melissa McClure (Universität Leiden) et al., Nature Astronomy, doi: 10.1038/s41550-022-01875-w