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Doppelgänger und Schattenwesen

Astronomie|Physik

Doppelgänger und Schattenwesen
Kollidierende Raumzeiten, Doppelgänger-Welten und kosmisches Recycling: Paralleluniversen sind die größte Horizonterweiterung der Wissenschaft.

„Hör zu: Da gibt es ein höllisch gutes Universum nebenan; lass uns gehen!”, schrieb der amerikanische Dichter Edward Estling Cummings 1944. Horizonterweiterung, Eskapismus oder – geistige – Verführung: Immer mehr Wissenschaftler scheinen dieser Aufforderung zu folgen. Eine Revolution des physikalischen Weltbilds kündigt sich an, dessen Reichweite unabsehbar ist: Unser Universum könnte nur eines unter unzähligen sein.

Vielleicht hat die Natur alles realisiert, was überhaupt möglich ist – im physikalischen oder sogar mathematisch-logischen Sinn. Dann gäbe es auch perfekte Doppelgänger von jedem von uns, außerdem andere Ichs mit anderen Lebensläufen ebenso wie Universen mit völlig unbekannten Naturgesetzen, mehr oder weniger Raum-Dimensionen, vielleicht zwei Zeit-Richtungen, überlichtschnellen Teilchen oder gespenstischen Schattenwesen.

Was in Mythen, der Philosophie und Literatur schon lange ein verwirrend-faszinierendes Thema ist, stößt inzwischen auch in der Physik und Kosmologie auf eine überraschende Resonanz – nicht zur Freude aller Forscher. „Die Idee der Paralleluniversen war Wissenschaftlern sehr verdächtig als eine Art Provinz der Mystiker, Scharlatane und Spinner. Jeder Physiker, der über Paralleluniversen forschte, war Gegenstand des Spotts und gefährdete seine Karriere, denn nicht einmal heute gibt es den geringsten experimentellen Hinweis ihrer Existenz”, gibt Michio Kaku zu. „Aber inzwischen hat sich das Klima drastisch geändert und die intelligentesten Köpfe auf unserem Planeten arbeiten emsig an diesem Thema”, schreibt der Professor für Theoretische Physik an der City University of New York in seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch „Parallel Worlds”. Die Gesamtheit der Universen hat inzwischen einen – nicht ganz unproblematischen – Namen bekommen: Multiversum. Die Annahme der Existenz anderer Universen wird deshalb auch Multiversum- oder kurz M-Hypothese genannt.

„Unser Universum ist nicht allein, sondern bloß eines in einer Unendlichkeit anderer, die wie Schaumblasen im Fluß der Zeit strömen”, ist auch der britische Astrophysiker und Wissenschaftsreporter Marcus Chown überzeugt. „Dort draußen, weit jenseits der fernsten Grenzen unserer Teleskope, gibt es Universen, die zu den Tönen aller vorstellbaren mathematischen Gleichungen tanzen”, schreibt er in seinem Buch „The Universe Next Door”.

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Das sind keine extravaganten Einzelmeinungen. Selbst so hoch angesehene Forscher wie Martin Rees, Professor an der Cambridge University und Astronomer Royal, der Königliche Astronom Großbritanniens, ist überzeugt: „Was gewöhnlich ,das Universum‘ genannt wird, könnte nur eines in einem ganzen Ensemble sein. Unzählige andere könnten existieren, in denen die Naturgesetze ganz anders aussehen. Das Universum, in dem wir entstanden sind, gehört in die ungewöhnliche Teilmenge, die die Entstehung von Komplexität und Bewusstsein erlaubt.”

Und Max Tegmark, einer der kreativsten Kosmologen der Gegenwart, stellt fest: „Die Natur erzählt uns aus vielen verschiedenen Richtungen, dass unser Universum nur eines unter einer riesigen Zahl anderer Universen ist.” Der Professor am Massachusetts Institute of Technology gibt aber zu: „Im Moment sind wir noch nicht in der Lage sehen zu können, wie die Teile zu einem großen Bild zusammenpassen.” Und er räumt ein: „Viele Leute finden die Vorstellung verabscheuungswürdig, und deshalb sind auch viele Wissenschaftler dagegen. Aber das ist eine emotionale Reaktion – die Leute mögen einfach nicht den Müll all dieser toten Universen.” Wie stark der Widerstand ist, hat Tegmark selbst erfahren, als er seine Ideen erst im Internet publizierte – weil er glaubte, dass niemand sie drucken wollte –, dann in Fachzeitschriften und schließlich im „Scientific American”. Es hagelte böse Briefe und sogar Abonnementskündigungen.

Dass es andere Universen geben müsse, wurde erstmals im Rahmen der Quantenphysik vermutet. Die „Many Worlds”-Interpretation geht davon aus, dass es ein gespenstisches Schattenreich jenseits unserer Wirklichkeit gibt, eine Überlagerung aller physikalisch möglichen alternativen Entwicklungen, die doch nicht weniger „ real” als jene ist, die wir beobachten. Diese Parallelwelten sind aber nicht eigentlich räumlich von unserem Realitätszweig getrennt, sondern auf eine geisterhafte, aber unbeobachtbare Weise gegenwärtig. Obwohl inzwischen viele Physiker diese bizarre Deutung akzeptieren, sperrt sich der in der Evolution nicht an Quantenphänomenen geschulte Alltagsverstand dagegen.

Mit den Händen genauso wenig greifbar, physikalisch gesehen spekulativer, aber vom Prinzip her viel leichter zu verstehen sind die anderen Universen, mit denen sich die Kosmologen herumschlagen – zumindest in ihren Theorien. Manche Universen sind nur um eine Haaresbreite entfernt – aber in einer uns unzugänglichen Dimension –, von anderen trennen uns die Abgründe der Zeit oder räumliche Unendlichkeiten. Die M-Hypothese ist dennoch keine haltlose Phantasterei, sondern gründet sich vor allem auf die Entwicklung in der modernen Kosmologie und Fundamentalphysik.

• Zum einen legen Erklärungsversuche des beobachtbaren Weltraums, der vermutlich vor 13,7 Milliarden Jahren mit einem Urknall entstanden ist, nahe, dass es andere Universen gibt.

• Zum anderen fordern auch die Ergebnisse der Stringtheorie – dem momentan besten Kandidaten für eine „Weltformel” oder „Theory of Everything”, die alle Naturkräfte und Elementarteilchen sowie Raum und Zeit einheitlich beschreibt – die Existenz einer atemberaubenden Zahl von Paralleluniversen.

Hier die wichtigsten Szenarien der M-Hypothese:

Das konservativste Argument für die Existenz von Paralleluniversen geht davon aus, dass der beobachtbare Weltraum nur ein winziger Ausschnitt eines größeren, womöglich unendlichen Universums ist. Das lässt sich zwar nicht beweisen, doch alle astronomischen Daten sind damit vereinbar. Ob überall dieselben Naturgesetze, -konstanten und so weiter gelten, ist für uns ebenfalls nicht entscheidbar. Denn unendlich viele Regionen eines solchen Riesenuniversums standen bislang mit unendlich vielen anderen Regionen – der unsrigen eingeschlossen – noch nie in einem kausalen Kontakt. So lässt sich nicht ausschließen, dass anderswo ganz andere Bedingungen herrschen.

Gemäß des gut bewährten Prinzips der Mittelmäßigkeit nehmen wir keine Sonderstellung ein, sondern unser Platz im All ist Durchschnitt. Demzufolge sollten alle – oder jedenfalls viele – Bereiche jenseits unseres Beobachtungshorizonts im Großen und Ganzen ähnlich beschaffen sein, also aus leuchtenden Gruppen, Haufen und Superhaufen von Galaxien sowie gewaltigen Leerräumen dazwischen bestehen. Das hat eine abenteuerliche Konsequenz, wenn sich dieser Aufbau ins Unendliche – oder zumindest hinreichend weit – fortsetzt. Der Quantentheorie zufolge können nämlich Unterschiede in der Natur nicht beliebig klein werden – das würde der Heisenberg’schen Unschärferelation widersprechen. Der Kosmologie-Professor Alexander Vilenkin von der Tufts University in Medford, Massachusetts, hat deshalb messerscharf gefolgert, dass dann im Rahmen der physikalischen Bedingungen alle möglichen Konfigurationen existieren – und zwar sogar unendlich oft. Doch die Anzahl der unterschiedlichen Geschichten – durch Ursache und Wirkung miteinander zusammenhängende physikalische Abläufe – seit dem Urknall ist selbst in einem unendlichen Universum mit denselben Gesetzen endlich. Somit wiederholt sich jede einzelne Geschichte unendlich oft. Mehr noch: Auch alle möglichen ähnlichen Geschichten ereignen sich – und zwar ebenfalls unendlich oft. Jeder Mensch wäre nur in unserer begrenzten Region des Universums einmalig. In unendlich vielen anderen Regionen würden unsere Doppelgänger ebenfalls ungläubig den Kopf schütteln oder mit Schrecken an die unendlich vielen Steuererklärungen und Redaktionskonferenzen dort draußen denken. Vilenkin, der seine Hypothese als „metaphysische Übung” charakterisiert, weil sie sich nicht direkt überprüfen lässt, vergleicht die Situation mit der Kopernikanischen Wende: „Zunächst glaubten die Menschen, dass die Erde im Zentrum des Universums sei. Dann wurde immer klarer, dass unsere Stellung im Universum mehr oder weniger dieselbe ist wie die von anderen Planeten. Es ist schwer zu schlucken, dass wir nichts Besonderes sind.” Freilich sind die Doppelgänger-Welten durch astronomische Distanzen voneinander getrennt. Max Tegmark hat die Entfernungen grob überschlagen. Der nächste Doppelgänger von Ihnen, lieber Leser, wäre statistisch gesehen 1010 Meter entfernt, das nächste Doppelgänger-Volumen einer Kugel mit 100 Lichtjahren Radius sogar 1010 Meter und das nächste Doppelgänger-Universum, das so groß ist wie unser beobachtbares All, unvorstellbare 1010 Meter. Es ist also sehr unwahrscheinlich, einem alter ego jemals die Hand zu reichen …

Viele Kosmologen sind heute davon überzeugt, dass unser Universum zu Beginn eine Phase der exponentiellen Expansion durchlief: einer überlichtschnellen Raumausdehnung. Das ist die Grundidee der Hypothese von der Kosmischen Inflation. Vilenkin und andere Kosmologen haben erkannt, dass die Inflation immer nur an einzelnen Stellen aufhört, nicht aber als Ganzes. Wo sie endet, bilden sich Blasenuniversen, die voneinander durch immer weiter inflationierende Räume getrennt werden. Diese Blasenuniversen – das beobachtbare All ist nur ein winziger Teil einer solchen Blase – können sich in ihren Naturgesetzen drastisch voneinander unterscheiden, und der ganze Kosmos reproduziert sich gleichsam ständig selbst, indem er immer neue Blasen bildet (siehe nächster Artikel „Mr. Universum”).

Noch kurioser: Aus den einzelnen Universen könnten sich sogar Tochter-Universen abspalten. Dafür sind verschiedene Szenarien denkbar. Alexander Vilenkin zufolge kann aufgrund der Energiedichte des Vakuums spontan, wenn auch selten, eine neue Phase der Kosmischen Inflation anfangen und Tochter-Universen bilden. Die exponentielle Raumausdehnung läuft aber nicht ins Mutter-Universum und vernichtet dieses, sondern stülpt sich gleichsam daraus hervor und nabelt sich ab, ähnlich wie die schillernden Seifenblasen, die Kinder so gern in die Luft pusten. „Jede dieser exponentiell expandierenden Blasen entwickelt sich zu einem Universum mit seiner eigenen ewigen Inflation”, sagt Vilenkin. „Auch daraus können sich neue inflationäre Blasen abspalten, aus diesen wieder welche und so weiter.” Vilenkin hat für diese endlose Reproduktionskette den Begriff „ Recycling-Universum” geprägt. Anderen Szenarien zufolge entstehen die Nachschub-Universen durch Wurmlöcher oder immer dann, wenn Materie zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Wenn ein ganzes Universums in einem „Endknall” zusammenstürzt, könnte dies ein Übergang zu einem neuen Urknall sein. Insofern ist sogar eine oszillierende Abfolge von Ur- und Endknall-Universen möglich. Auch unser eigenes Universum könnte einst als ein Baby-Universum von einem früheren oder größeren Universum ins Dasein geworfen und mit seiner Ausdehnung rasch groß und stark geworden sein. Der Urknall wäre dann nicht der Beginn von allem gewesen, sondern nur ein Übergang und ein lokales Geburtsereignis unter Myriaden.

Der Quantenkosmologie zufolge borgen Universen ihr Dasein aus einer langlebigen Quantenfluktuation. Oder sie entstehen über eine Art Tunneleffekt aus dem Beinahe-Nichts des Quantenvakuums – dem physikalischen Grundzustand. Sogar die Hypothese einer Zeitschleife wurde vorgeschlagen, wonach sich das Universum selbst durch einen Rückgriff in die Vergangenheit erzeugt hätte, also gewissermaßen seine eigene Mutter wäre.

Auch die Stringkosmologie führt zur Annahme einer monströsen Zahl von Universen: Weil es Myriaden von Möglichkeiten gibt, wie sich die von dieser Theorie postulierten Extradimensionen ein- und ausrollen können, existieren mindestens ebenso viele verschiedene Grundzustände oder Stringvakua – also Arten von Universen mit unterschiedlichen Naturgesetzen. Stringtheoretiker wie Leonard Susskind von der Stanford University diskutieren Zahlen zwischen 10100 und 101500 und nehmen an, dass das Szenario der Kosmischen Inflation einen physikalischen Mechanismus liefert, um die Myriaden von Stringvakua auszubrüten – in Form von Myriaden unterschiedlicher Blasen-Universen.

Die Stringtheorie eröffnet auch die Möglichkeit, dass andere Universen nicht einmal eine Haaresbreite von uns entfernt sind – in Richtung anderer Raumdimensionen. „Extradimensionen haben die Art und Weise verändert, wie Physiker über das Universum denken”, schreibt Lisa Randall in ihrem gerade erschienenen Buch „Warped Passages”. Die junge Physik-Professorin an der Harvard University sorgte mit ihren vieldimensionalen Ideen für große Resonanz in der Fachwelt. „Extradimensionen könnten sogar Folgen haben für die Welt, die wir sehen”, ist sie überzeugt. So ist die Schwerkraft vielleicht nur deshalb so schwach – 1037-mal schwächer als die elektromagnetische Wechselwirkung –, weil sie größtenteils in eine Extradimension entweicht. Diese könnte sogar unendlich ausgedehnt sein, aber derart gekrümmt, dass kaum etwas Zugang zu ihr hat. Doch vielleicht stößt schon der Large Hadron Collider, der 2007 am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf in Betrieb gehen soll, ein kleines Türchen auf. Der Teilchenbeschleuniger könnte bestimmte Partikel namens Kaluza-Klein-Moden erzeugen, die in die Extradimensionen verschwinden, aber zuvor in unserer Welt noch Spuren hinterlassen. Und wenn er gar Schwarze Minilöcher erschafft, müssten die auch höherdimensional sein und würden auf eine charakteristische Weise zerfallen. Das ist natürlich alles spekulativ. Doch für Lisa Randall sind solche Spekulationen unumgänglich für den Erkenntnisfortschritt. „Selbst wenn es sich herausstellt, dass viele Details nicht zur Realität passen, kann eine neue theoretische Idee Licht auf die physikalischen Prinzipien werfen, die die wahre Theorie über den Kosmos ausmachen.”

Einer anderen Variante der Stringkosmologie zufolge existieren Paralleluniversen sogar im geometrisch exaktesten Sinn. Ihr zufolge gibt es eine fünfdimensionale Raumzeit, die von zwei vierdimensionalen Universen begrenzt wird – ähnlich wie zwei parallel aufgehängte Leintücher den Raum zwischen ihnen einschließen. Die Struktur ist aber nicht starr, sondern dynamisch wie zwei Hände, die Applaus klatschen: Dem Modell zufolge bewegen sich die Universen – eines davon ist unseres – nämlich aufeinander zu, kollidieren, entfernen sich wieder und ziehen sich erneut an. Jeder Zusammenprall in der fünften Dimension entspricht einem neuen Urknall.

Selbst Gegner der Urknalltheorie, die für ein ewiges, quasi-stationäres Universum argumentieren, welches in starken Gravitationsfeldern immer wieder Materie erschafft, gehen von verschiedenen Regionen mit unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften aus (etwa variierenden Teilchenmassen), die weitgehend isoliert voneinander sind.

Wenn Wissenschaftler von anderen Universen oder dem Multiversum sprechen, kann also ganz Unterschiedliches gemeint sein. Doch allen Varianten der Multiversum- oder „M”-Hypothese ist gemeinsam, dass unser Universum zwar eine Gesamtheit darstellt (lateinisch „universus” = gesamt), seinem Namen zum Trotz aber nicht einzigartig ist, kein Unikat (lateinisch „unus” = der eine).

Kritiker weisen die M-Hypothese als spekulativ, extravagant, nicht überprüfbar oder gar unbegründet zurück. Ein Grund dafür ist die Unzugänglichkeit anderer Universen. Aber wieso soll es prinzipiell unmöglich sein, Hypothesen über das, was jenseits unseres Beobachtungshorizonts liegt, aus bekannten Gesetzen oder Tatsachen zu extrapolieren? Es ist vermessen zu behaupten, dass diese Universen, bloß weil wir niemals etwas über sie erfahren können, nicht existieren. Daher wäre es voreilig, die M-Hypothese von vornherein als Grenzüberschreitung unserer spekulierenden Vernunft abzuweisen. Auch der Vorwurf, die M-Hypothese sei extravagant, ist Unsinn – zumal die Quantentheorie mit ihren vielen bizarren Aussagen den „gesunden Menschenverstand” längst gesprengt hat.

Ein anderer Einwand lautet, dass sich die M-Hypothese nicht überprüfen lasse und daher unbrauchbar sei. Doch sie behauptet nicht notwendig die vollständige Trennung der einzelnen Universen. Daher steht sie nicht prinzipiell außerhalb aller Testbarkeit.

Ferner wird kritisiert, die M-Hypothese verstoße gegen das Ökonomie-Prinzip der Wissenschaft. Dem ist entgegenzuhalten, dass die M-Hypothese zwar sehr großzügig mit Welten, nicht aber mit unterschiedlichen Entitäten, Prinzipien und Restriktionen umgeht. Und alles bleibt im Rahmen der Physik.

Mit dem Satz „Alles, was nicht verboten ist, ist Pflicht” aus Terence H. Whites Artus-Roman „The Once and Future King” nehmen Physiker gerne an, dass alles, was die Physik nicht ausdrücklich verbietet, auch existiert. Dafür hat etwa der britische Kosmologe Dennis William Sciama argumentiert. Entsprechend diesem Versuch, die Beweislast umzukehren, müsste man zeigen, dass es andere Universen nicht (!) geben kann. „Nach der herkömmlichen Auffassung von einem einzigartigen Universum müssen wir annehmen, es sei entschieden worden, dass alle logisch möglichen Universen bis auf eines nicht existieren sollen”, schrieb Sciama. „Doch es ist völlig obskur, wie eine solche Entscheidung getroffen worden sein könnte. Wenn es nur ein Universum gäbe, entstünde das Problem, zu verstehen, warum manche möglichen Universen nicht wirklich existieren, während ein bestimmtes dies tut.” Und gibt es viele verschiedene Universen mit womöglich ganz anderen Naturgesetzen und -konstanten, dann bräuchten wir uns auch nicht zu wundern, warum unser Universum so „lebensfreundlich” ist – in den „totgeborenen” gäbe es schlicht niemand, der sich darüber wundern könnte.

Sicherlich ist die M-Hypothese Höhe- und Endpunkt einer Serie „ kosmischer Vertreibungen”, die mit der Erkenntnis begann, dass die Erde nicht das Zentrum des Alls ist. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hatte dies als die erste große „Kränkung” der Menschheit bezeichnet. Das Ende des Geozentrismus – der Ausdruck und Folge eines anthropozentrischen Mittelpunktswahns war – wird mit der M-Hypothese aufs Äußerste relativiert. Doch zugleich avanciert die philosophische und physikalische Kosmologie damit zur denkbar größten Erfolgsgeschichte der Wissenschaft und bezeugt die geistige Entwicklung eines Wesens, das die Fesseln seiner notwendigerweise provinziellen Herkunft zu sprengen vermocht hat. Von der engen Perspektive der terrestrischen Wälder zum Einblick in ein womöglich unendliches Multiversum – was für eine erstaunliche Horizonterweiterung! Rüdiger Vaas ■

Ohne Titel

„Wir werden von dem Spuk verfolgt, dass unendlich viele minimal verschiedene Kopien von uns selbst ihr Parallelleben leben und dass jeden Moment mehr Duplikate in die Existenz gelangen und unsere vielen alternativen Zukünfte eingehen”, brachte der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Frank Wilczek einmal die Many-Worlds-Interpretation der Quantenmechanik auf den Punkt. Sie geht auf die Dissertation des amerikanischen Physikers Hugh Everett III aus dem Jahr 1957 zurück. Ihm zufolge „spaltet” sich das Universum mitsamt allen seinen Bewohnern ständig auf, sodass alle möglichen Alternativen wirklich werden und diese Welten fortan ihre eigene, beinahe unabhängige Entwicklung durchlaufen. Wie diese Vermehrung erfolgt, ist freilich umstritten; Erhaltungssätze werden aber anscheinend nicht verletzt. Obwohl die Many-Worlds-Interpretation bizarr erscheint, hat sie, vor allem unter Quantenkosmologen, zahlreiche Anhänger gefunden. „Everetts Interpretation ist eine unvermeidbare Konsequenz, wenn man die Quantentheorie als universell gültig betrachtet”, ist H. Dieter Zeh von der Universität Heidelberg überzeugt. Ebenso David Deutsch von der Oxford University: „Die Quantentheorie der Paralleluniversen ist nicht eine lästige, optionale Interpretation, die aus geheimnisvollen theoretischen Betrachtungen stammt. Sie ist die Erklärung – die einzig haltbare – einer bemerkenswert kontraintuitiven Realität.”

Ohne Titel

• Die Annahme, dass unser Universum nur eines von – vielleicht unendlich – vielen ist, gewinnt in der modernen Physik und Kosmologie immer mehr Anhänger.

• Es könnte perfekte Doppelgänger-Welten geben, aber auch Universen mit völlig anderen Naturgesetzen und Dimensionen – oder sogar alles, was mathematisch überhaupt möglich ist.

• Die Multiversum-Hypothese hat zahlreiche theoretische Vorzüge, ist im Prinzip sogar überprüfbar und macht verständlich, warum wir in einem lebensfreundlichen Universum leben.

Ohne Titel

Der Begriff „Multiversum” bedeutet heute „Vielzahl von Universen”. Er hat sich in den letzten Jahren zunehmend durchgesetzt, konkurriert aber noch mit „Megaversum”, „Omniversum” und „Ultraversum”. Vielleicht sollte man diese als weitere Oberbegriffe in Reserve behalten. Es ist nämlich denkbar, dass es nicht nur ein Multiversum aus vielen Universen gibt – die alle auf eine bestimmte Weise miteinander in Kontakt stehen, zum Beispiel durch die Kosmische Inflation –, sondern auch viele vollständig und in jeder Hinsicht voneinander isolierte Multiversen. Deren Gesamtheit könnte man dann „Omniversum” nennen, von dem es dann per definition nur eines geben kann – wie ursprünglich vom „Universum” angenommen.

Kurioserweise bedeutete „Multiversum” früher das Gegenteil von heute, nämlich einen Teilbereich oder Zweig des Universums. Andy Nimmo von der schottischen Sektion der British Interplanetary Society hat den Begriff 1960 eingeführt als „ein scheinbares Universum, von dem eine Vielzahl das ganze Universum ausmacht”. Das war im Hinblick auf die Many-Worlds-Interpretationen der Quantenphysik gedacht, die sich immer weiter aufspalten. Der Science-Fiction-Autor Michael Moorcock verwendete „Multiversum” dann ab 1962 als Gesamtheit aller Universen in seinen „Eternal Champion”-Kurzgeschichten und im Roman „The Blood-Red Game”. Der Quantenphysiker David Deutsch von der Oxford University las dies und führte den Begriff im gegenteiligen Sinn von Nimmo in die Quantenphysik ein.

Manche Kritiker meinen freilich noch immer, dass es andere Universen schon per definitionem nicht geben kann, denn bereits das Wort impliziere die Einzigartigkeit. Doch der Begriff „ Universum”, so wie er gegenwärtig verwendet wird, ist mehrdeutig. Ob man, wie hier im Heft, von anderen Universen sprechen will und deren Gesamtheit als Multiversum bezeichnet, oder ob man lieber von Welt-Ensembles oder Teiluniversen redet, weil man „Universum” für die Gesamtheit des (physischen) Seins reservieren möchte, ist eine eher nebensächliche terminologische Frage. Es kommt darauf an, was man meint.

Von verschiedenen Universen zu sprechen ist sinnvoll, wenn diese räumlich oder zeitlich ganz oder doch weitgehend voneinander getrennt sind. Sie sind zeitlich separiert, wenn sie nacheinander entstehen und vergehen (wie die zyklischen Welten im östlichen Denken und bei Friedrich Nietzsches „ewiger Wiederkehr” ). Sie sind räumlich getrennt, wenn sie in verschiedenen Dimensionen existieren und allenfalls eingeschränkt miteinander wechselwirken, oder wenn sie in weit entfernten Regionen liegen, die sich außerhalb unseres Beobachtungshorizonts befinden und also (noch) nicht in kausalem Kontakt mit uns stehen. Denkbar ist auch eine Art Einbettung: So hat sich im 17. Jahrhundert beispielsweise der französische Philosoph Blaise Pascal Universen im Inneren der Atome unseres Universums vorgestellt. Und kürzlich wurde von James Daniel Bjorken, emeritierter Physik-Professor am Stanford Linear Accelerator Center, vorgeschlagen, unser Universum sei eine Art Schwarzes Loch in einem größeren Universum und enthielte in seinen Schwarzen Löchern selbst andere Universen und so weiter – eine endlose Folge „russischer Puppen”.

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