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Die Million-Dollar-Vermutung

Astronomie|Physik

Die Million-Dollar-Vermutung
Eine Million Dollar ist auf die Lösung der hundertjährigen Poincaré-Vermutung ausgeschrieben. Nun ist das Problem offenbar geknackt worden – von einem russischen Einzelgänger.

Er sieht aus wie eine Mischung aus Guildo Horn und Rasputin – mit seinen verstrubbelten Haaren, die stellenweise schon ein bisschen schütter werden. Doch die meisten mathematischen Institute weltweit würden einiges dafür geben, wenn das Gehirn unter dem Haarschopf für sie arbeitete. Will es aber nicht: Grigorij Yakovlevich Perelman zieht es vor, in aller Ruhe in seiner Geburtsstadt Sankt Petersburg zu leben, seit er Mitte der Neunziger Jahre gut zwei Jahre in den USA verbracht hatte. Während „Grisha”, wie er unter Freunden und Kollegen heißt, jetzt am Steklov-Institut für Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften Beweise austüftelt – Gerüchten zufolge für 80 Dollar im Monat –, zerbrechen sich amerikanische Mathematiker am Clay Mathematics Institute in Cambridge, Massachusetts, die Köpfe über seine Arbeit. Denn sie hüten sieben je eine Million Dollar schwere Preise für die Lösung besonders schwieriger mathematischer Probleme – darunter einen für den Beweis der Poincaré-Vermutung. Und just diesen Beweis scheint Grisha Perelman gefunden zu haben.

Er folgt als Spezialfall aus der so genannten Klassifizierung der 3-Mannigfaltigkeiten – und die ist es, die den Puls der Mathematiker höher treibt. „Selbst wenn man noch einen Fehler im Beweis der Poincaré-Vermutung finden sollte, sind Perelmans Arbeiten auf jeden Fall einer der größten Durchbrüche in der geometrischen Analysis der letzten 50 Jahren”, begeistert sich Klaus Ecker. Der Mathematiker an der Freien Universität Berlin arbeitet seit einigen Jahren an ähnlichen Problemen wie Perelman.

Der Ursprung des Ganzen liegt jedoch noch viel weiter in der Vergangenheit: „Mannigfaltigkeiten” sind eine Erfindung von Mathematikern des 19. Jahrhunderts. Wer bei Mannigfaltigkeit an eine große Vielfalt denkt, liegt nicht falsch: Mannigfaltigkeiten sind abgeschlossene Räume, die von jedem Punkt aus in nächster Nähe „flach” aussehen. Und dafür gibt es jede Menge Möglichkeiten – unendlich viele sogar. Die Oberfläche eines Wasserballs oder der Erdkugel sind zum Beispiel Mannigfaltigkeiten. Sie sind abgeschlossen und erscheinen aus nächster Nähe bretteben. Weil obendrein zwei Koordinaten (Längen- und Breitengrad) ausreichen, um jede Position auf der Erdkugel festzulegen, nennen Mathematiker die Oberfläche einer dreidimensionalen Kugel eine „ 2-Mannigfaltigkeit”.

Der französische Mathematiker Jules Henri Poincaré (1854 bis 1912) war Ende des 19. Jahrhunderts bei der Beschäftigung mit Funktionen auf solche Mannigfaltigkeiten gestoßen. Er stellte sich eine nahe liegende Frage: Kann man diese Gebilde irgendwie sortieren? Auch wenn man aus einem Wasserball die Luft heraus lässt, bleibt er eine Mannigfaltigkeit. Doch welche Eigenschaft haben ein schlaffer Wasserball und die pralle Erdkugel gemeinsam? Aufgrund der Vorarbeiten seiner Kollegen August Ferdinand Möbius (1790 bis 1868) und Camille Jordan (1838 bis 1922) kannte Poincaré eine Antwort: So lange man die Gummihaut des Wasserballs nicht zerschneidet oder irgendwie zusammenklebt, besitzen weder die Erde noch der Wasserball eine Öffnung, durch die man zum Beispiel ein Seil ziehen könnte – ganz anders als ein Schwimmreifen, den man bequem an einem Seil aufhängen kann (siehe Grafik auf der nächsten Seite). Mannigfaltigkeiten sind also nach der Zahl ihrer Öffnungen sortierbar.

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Poincaré sah, dass sich alle 2-Mannigfaltigkeiten ohne Öffnung zu Kugeln verformen lassen: Ein Wasserball lässt sich immer zu einer Kugel aufblasen, egal, wie verknautscht er ist. Nur wenn man ein Loch hineinschneidet, kann man ihn nicht mehr zur Kugel aufpumpen.

Sind also alle Mannigfaltigkeiten irgendwie einer Kugel ähnlich, wenn sie keine Öffnungen besitzen? Was in zwei oder drei Dimensionen sonnenklar scheint, klappt bei den Mannigfaltigkeiten in vier Dimensionen nicht mehr. Poincaré lernte mit der Zeit, dass 3-Mannigfaltigkeiten nicht nur wie die unvorstellbare dreidimensionale Oberfläche eines vierdimensionalen Wasserballs aussehen können, sondern viel kurioser: Sie können sich unendlich ausdehnen, aber endlich im Volumen sein – vorstellbar zum Beispiel als „Zimmer”, bei dem Gegenstände durch eine Wand gleiten und dann aus der gegenüberliegenden Wand wieder ins Zimmer treten. Aus dem Alltag kennt man so etwas nicht, und genau das macht die Sache kompliziert.

Das Zählen der Öffnungen reichte also nicht, doch Poincaré hatte eine neue Idee. Zur Veranschaulichung denkt man sich gerne Schlingen aus mathematischen Fäden – unendlich dünn, dehnbar und gleitfähig. Diese imaginären Gummifäden legt man auf der Mannigfaltigkeit aus, ganz egal wie. Dann zieht man die Schlingen vorsichtig auf der Mannigfaltigkeit zusammen. Wenn man grundsätzlich nirgendwo hängen bleiben kann, gleichgültig, wie die Schlinge vorher lag, heißt diese Mannigfaltigkeit „ nullhomotop”. In der dreidimensionalen Welt gilt: Ist eine (zweidimensionale) Oberfläche nullhomotop, dann hat sie keine Öffnungen, in denen der Faden hängen bleiben könnte. Eine Kaffeetasse zum Beispiel ist nicht nullhomotop, denn die Schlaufe kann im Henkel hängen bleiben – anders als beim nullhomotopen Wasserball. Bei 3-Mannigfaltigen fallen beide Eigenschaften nicht mehr zusammen: Es gibt 3-Mannigfaltigkeiten ohne Öffnungen, die aber nicht nullhomotop sind.

Poincaré formulierte die Vermutung, dass alle nullhomotopen 3-Mannigfaltigkeiten ohne Schneiden und Kleben zu Kugeloberflächen umgeformt werden können. „Das ist eine Frage, die uns schon zu lange beschäftigt hat”, schrieb er – nicht ahnend, wie lange sie die Mathematik noch in Atem halten würde.

Heute führt die American Mathematical Society in ihrer Klassifikation der Mathematik unter der Bezeichnung 57M40 eine eigene Abteilung nur für Arbeiten zur „Charakterisierung von E3 und S3 (Poincaré-Vermutung)”. Hunderte Arbeiten wurden dazu geschrieben – und in den Beweisen der Poincaré-Vermutung steckte irgendwo immer der Wurm. Denn das Problem war knifflig: Es fehlte ein grundlegender Überblick über die 3-Mannigfaltigkeiten – kein Wunder, schließlich gibt es unendlich viele, und sie können unvorstellbar bizarr sein.

Bis in die Siebzigerjahre war die Struktur der 3-Mannigfaltigkeiten ein unlösbares Rätsel. Doch dann begann der amerikanische Mathematiker William P. Thurston von der Princeton University zu ahnen, wie man 3-Mannigfaltigkeiten sortieren könnte: mit einer Art Mannigfaltigkeiten-Lego aus acht verschiedenen Geometrie-Bausteinen. Daraus – so Thurstons unbewiesenes Modell – sollen sich alle geschlossenen 3-Mannigfaltigkeiten zusammenbauen lassen. Wie es der Zufall wollte, entsprach eine der Geometrien just der Oberfläche einer vierdimensionalen Kugel. Ganz nebenbei hatte Thurston also einen ganz neuen Weg zum Beweis der Poincaré-Vermutung entdeckt: Wer Thurstons „Geometrisierungsvermutung” bewies, der bewies zugleich, dass nullhomotope 3-Mannigfaltigkeiten nur aus Kugeloberflächen bestehen.

Doch das ging nicht so leicht: Die Mathematiker hatten kein Werkzeug an der Hand, mit dem sie die 3-Mannigfaltigkeiten so vereinfachen und glätten konnten, dass sich die Teilstücke nach dem Auseinanderschneiden in Thurstons Kategorien einsortieren ließen. Man brauchte vor der mathematischen Chirurgie also eine Art mathematisches Bügeleisen, das die Mannigfaltigkeiten von Knittern befreite.

Es dauerte Jahre, bis man dieses Hilfsmittel fand. Richard Hamilton hatte die entscheidende Idee. Der jugendlich wirkende Mathematiker, heute an der Columbia University in New York, erfand Anfang der Achtzigerjahre ein Verfahren namens „ Ricci-Fluss”. Benannt ist es nach dem italienischen Mathematiker Gregorio Ricci-Curbastro (1853 bis 1925). Anfang des 20. Jahrhunderts hatte er ein mathematisches Messinstrument für die Krümmung einer Mannigfaltigkeit definiert. Dieser so genannte Ricci-Tensor erwies sich schon für Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie als unentbehrlich und leistet bis heute den Mannigfaltigkeiten-Forschern nützliche Dienste. Sie können damit beispielsweise die „Falten” ihrer Mannigfaltigkeiten glätten.

Hamiltons Ricci-Bügeleisen macht sozusagen alle Krümmungen platt. Eine verknautschte kartoffelförmige Mannigfaltigkeit wird dadurch zur Kugel. Leider geht sie dabei auch ziemlich ein: Während sie immer kugelförmiger wird, schrumpft sie bis zu einem Punkt. Das störte die Mathematiker allerdings wenig: So etwas lässt sich beseitigen, indem man die Kugel durch eine Lupe betrachtet, deren Vergrößerung ebenso schnell wächst, wie die Kugel schrumpft.

Andere Probleme waren ernster: Bei komplizierteren Mannigfaltigkeiten kann es passieren, dass sich einige Stellen während der Berechnung einschnüren, während im Rest die Krümmungen noch dabei sind, immer gleichförmiger zu werden. Dabei reißen die Strukturen auf – eine Singularität entsteht (siehe Abbildung rechts). Hamilton konnte zwar beweisen, dass die gebügelten Mannigfaltigkeiten genau denen aus Thurstons Geometrisierungsvermutung entsprechen, falls keine Singularitäten auftreten. Was aber, wenn dies der Fall ist?

Hamiltons mathematischer Instinkt wies den Weg zur Lösung: Man muss die Singularität herausschneiden und die Löcher mit kleinen Scheiben (bei 2-Mannigfaltigkeiten) oder Kugeln (bei 3- Mannigfaltigkeiten) verschließen. Diese „Capping off” genannte Technik entschärft das Problem also, indem sie die Singularitäten umgeht und ein weiteres Glattbügeln ermöglicht. Doch die große Frage war, ob sich dies bei den 3-Mannigfaltigkeiten auch praktisch umsetzen lässt – denn es bestand die Gefahr, dass die Krümmung sich plötzlich katastrophal verstärkte. Perelman will bewiesen haben, dass dies nicht der Fall ist.

Die Lösung entstand im Stillen, in Sankt Petersburg. „Immer wieder wurden Kollegen, die in diesem Bereich arbeiteten, von Perelman um Vorabdrucke angeschrieben”, erzählt der Berliner Mathematiker Ecker. Am 11. November 2002 wussten sie, warum: Grisha Perelman verschickte ein paar E-Mails an Mathematiker in aller Welt. Einige hatten ihn bereits zwischen Herbst 1992 und 1995 in den USA kennengelernt, an der State University und am Courant Institute in New York oder an der University of California in Berkeley. Perelman hatte mit dem, was er dort verdiente, das Geld für sein ehrgeiziges Projekt zusammengespart – den Abschluss des Programms von Richard Hamilton.

„Auf www.arXiv.org können Sie eine Arbeit finden, die Sie vielleicht interessiert”, schrieb er in der E-Mail. Über diese Web-Seite konnte man eine Arbeit Perelmans mit dem Titel „The entropy formula for the Ricci Flow and its geometric applications” herunterladen – 39 Seiten, auf denen er beschrieb, wie ein Beweis der Geometrisierungsvermutung aussehen könnte. Und er bewies die wichtigsten offenen Fragen. Poincaré erwähnt er dabei nicht, obwohl seine Arbeit der Weg zum Beweis der Vermutung sein könnte.

„Perelman ist eben ganz bescheiden”, meint Klaus Ecker, den die E-Mail und die Arbeit damals elektrisierten. „Ende Januar 2003 haben wir ihn zu einem Meeting eingeladen”, berichtet er. Der Russe folgte der Einladung nach Berlin und sprach über ein einzelnes Thema aus seiner ersten Arbeit. „Danach haben wir ihn zwei Tage lang mit Fragen gelöchert”, erinnert sich Ecker, „und er konnte sie alle beantworten.”

Im März 2003 veröffentlichte Perelman weitere 22 Seiten auf dem arXiv-Server im Internet, die die offenen Fragen aus der ersten Arbeit klärten – und, wie es aussieht, die Thurston-Vermutung endgültig bewiesen. Im Juli 2003 schloss Perelman die Trilogie dann mit einem kurzen Aufsatz ab, in dem er bewies, dass bei nullhomologen Mannigfaltigkeiten das Bügeln mit dem Ricci-Fluss tatsächlich in endlicher Zeit abgeschlossen werden kann – letztlich der Beweis für die Poincaré-Vermutung.

Seitdem grübeln weltweit Mathematiker über Perelmans Beweisen. Artikel eins und drei gelten schon jetzt als fehlerlos. „Die zweite Arbeit hat aber, glaube ich, noch keiner von uns von Anfang bis Ende verstanden”, bedauert Ecker. Aus gutem Grund sehen die Bestimmungen des Clay Mathematics Institute vor, dass jeder vollständige Beweis einer Preisaufgabe mindestens zwei Jahre nach Veröffentlichung der Prüfung durch die Kollegen standhalten muss, bevor sie einen Preis ernten kann. Bis zur Verleihung hält das Institut geheim, wen es für preiswürdig hält. Doch dass Perelman – vielleicht zusammen mit Hamilton – die ersten Preisträger dieses Jahrtausends werden könnten, gilt als ausgemacht.

Im Falle des Falles stellt sich nur noch die Frage, ob Grisha Perelman den Preis annehmen wird. 1996 hat er einen Forschungspreis der Europäischen Mathematischen Gesellschaft, dotiert mit 6000 Euro, abgelehnt – und das, obwohl er seine Arbeit teilweise durch persönliche Ersparnisse finanziert, wie er in einer Fußnote zur ersten Arbeit verrät. Kollegen bekommen auf ihre E-Mails derzeit nur knappe Antworten, Journalisten gar keine. Und klickt man sich auf Perelmans persönliche Instituts-Website durch, dann findet man nur eine leere Seite. Niemand weiß, über welchem Problem Grisha Perelman jetzt gerade brütet. ■

Andreas Loos schreibt als freier Journalist in Berlin über Themen aus Mathematik, Physik und Technik.

Andreas Loos

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Einfache Einführung in die großen mathematischen Probleme

Pierre Basieux

Die Top Seven der mathematischen Vermutungen

Rowohlt, Reinbeck 2004, € 8,90

Internet

Seite des Clay Mathematics Institute mit Informationen über die Poincaré- Vermutung und andere millionenschwere Probleme:

www.claymath.org

Diskussion von Perelmans Arbeiten:

www.math.lsa.umich.edu/research /ricciflow/perelman.html

Ohne Titel

• 1904 versuchte der Franzose Henri Poincaré, dreidimensionale mathematische Objekte zu sortieren. Seine Vermutung, die einfachsten dieser „3-Mannigfaltigkeiten” ließen sich stets zu Kugeln verformen, konnten Mathematiker lange weder beweisen noch widerlegen.

• Auf die Lösung des Problems hat das amerikanische Clay Mathematics Institute einen Preis von einer Million Dollar ausgeschrieben.

• Das russische Mathe-Genie Grisha Perelman hat sie wahrscheinlich gefunden.

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