Im sichtbaren Licht haben Astronomen unsere Galaxie schon hochgenau kartiert – jetzt folgt die bisher detaillierteste Karte der Milchstraße im Infrarot. Sie zeigt Aussehen, Verhalten und Bewegung von mehr als 1,5 Milliarden Objekten in unserer Galaxie, die vom VISTA-Teleskop der europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile über 13 Jahre hinweg jeweils mehrfach aufgenommen wurden. Von besonderer Bedeutung sind dabei Daten aus dem Milchstraßenzentrum und anderen von Staub verhüllten Bereichen unserer Galaxie, die für optische Teleskope nicht sichtbar sind. Die neue Infrarot-Kartierung habe die Sicht auf unsere Heimatgalaxie für immer verändert und werde die Erforschung der Milchstraße und ihrer Objekte entscheidend voranbringen, so die Astronomen.
Die Beobachtung und Kartierung des Himmels mit Teleskopen ist eine wichtige Voraussetzung, um astrophysikalische und kosmische Prozesse besser zu verstehen. Himmelsdurchmusterungen im sichtbaren Licht wie die Sternenkataloge des Gaia-Satelliten, zeigen dabei vor allem die Positionen, Bewegungen und spektralen Merkmale von Sternen in der Milchstraße und ermöglichen es beispielsweise, Sternenströme zu identifizieren oder das Alter von Sternen zu bestimmen. So haben Astronomen auf Basis der Gaia-Kataloge unter anderem den Stammbaum der Milchstraße rekonstruiert und den „Diebstahl“ extragalaktischer Sterne aufgeklärt. Doch viele Prozesse im Kosmos spielen sich im Verborgenen ab, jenseits der für uns sichtbaren Lichtwellenlängen. Besonders energiereiche Prozesse zeigen sich beispielsweise nur über Gamma- oder Röntgenstrahlen, kühle Gase und protoplanetare Scheiben sind oft nur im Radiowellenbereich genauer zu beobachten.
Innere Milchstraße im Infrarot
Infrarot-Teleskope sind hingegen wichtig, weil sie auch die Objekte und Prozesse zeigen können, die von dichtem Staub verhüllt werden wie beispielsweise die meisten Sternentstehungsgebiete oder das dichte Zentrum unserer Galaxie. “Diese inneren Regionen der Milchstraße sind am schwersten zu erforschen und am komplexesten, denn sie weisen eine Mischung von Sternpopulationen aus der inneren Scheibe, dem Bulge und dem Halo auf, die ganz unterschiedliche Merkmale besitzen”, erklären Roberto Saito von der Förderalen Universität von Santa Catarina in Brasilien und seine Kollegen. Bereits im Jahr 2010 haben sie damit begonnen, den inneren Bereich der Milchstraße mit dem VISTA-Teleskop (Visible and Infrared Survey Telescope for Astronomy) der europäischen Südsternwarte auf dem Paranal in Chile zu durchmustern. Dieses Teleskop verfügt über eine hochauflösende Infrarotkamera (VIRCAM), die mithilfe ihrer 16 jeweils 2048 Detektoren umfassenden Sensoren ein großes Sichtfeld besitzt. Bereits im ersten Teil der Kartierung (VVV) erfasste das Teleskop Objekte in einem 562 Quadratgrad großen Gebiet im Zentrum der Milchstraße.
Die jetzt veröffentlichte Kartierung umfasste jedoch zusätzlich die Daten einer zweiten VIRCAM-Durchmusterung. “Der VVVX-Survey hat die Fläche in ihrer galaktischen Länge und Breite erweitert und ein Gebiet von rund 480 Quadratgrad im Bulge sowie rund 1170 Quadratgrad im inneren Bereich unserer Galaxie abgedeckt”, berichten die Astronomen. Insgesamt umfasst die neue Infrarotkarte der Milchstraße damit die Ergebnisse von 420 Beobachtungsnächten und deckt einen Himmelsbereich ab, der 8600 nebeneinander gelegten Vollmonden entspricht. “Auch wenn VVV und VVVX zusammen nur rund vier Prozent des gesamten Firmaments abdecken, enthält die kartierte Region den Großteil aller Sterne der Milchstraße und die größte Konzentration von Gas und Staub unserer Galaxie”, schreibt das Team. Weil jeder Himmelsbereich für die Kartierung im Laufe der rund 13 Jahre mehrfach beobachtet wurde, zeigen die Infrarotdaten auch die Bewegungen und potenzielle Helligkeitsänderungen der erfassten Himmelskörper. Insgesamt zeigt die neuen Infrarotkarte der Milchstraße mehr als 1,5 Milliarden Objekte – zehnmal mehr als ihre 2012 veröffentlichte Vorgängerversion.
Sternhaufen, Staubhüllen und veränderliche Sterne
Schon jetzt haben die Infrarotdaten dieser Kartierung zahlreiche zuvor unbekannte Himmelskörper und Prozesse enthüllt. „Wir haben so viele Entdeckungen gemacht, dass wir die Sicht auf unsere Galaxie für immer verändert haben“, sagt Projektleiter Dante Minniti von der Universität Andrés Bello in Chile. Schon jetzt wurden mehr als 300 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, die auf den Daten der VVV- und VVVX-Durchmusterungen beruhen. So haben Astronomen auf Basis dieser Daten Dutzende offener Sternhaufen und Kugelsternhaufen identifiziert, die zu den ältesten Komponenten der Milchstraße gehören. Auch zahlreiche junge Sterne, die noch in ihre staubigen Hüllen eingebettet sind, und veränderliche Sterne, die als wichtige Entfernungsmesser und “Standardkerzen” der Astronomie gelten, sind nun vermessen und kartiert. Mithilfe solcher Daten aus der VVV- und VVVX-Durchmusterung haben Forschende beispielsweise ermittelt, wann der Balken unserer Milchstraße entstand, wie Minniti und seine Kollegen berichten. Auch Braune Zwerge, Planeten ohne Mutterstern und Hyperschnellläufer wurden bereits mithilfe der Infrarotdaten untersucht.
“Das Erbe der VVVX- und VVV-Durchmusterungen wird uns noch viele Jahre begleiten”, erklären die Astronomen. “Obwohl sie schon viele Ergebnisse erbracht haben, wird die volle Auswertung der Daten noch Jahre dauern.” Gleichzeitig dient die Infrarotkarte auch als Hilfe bei der Planung von genaueren Beobachtungen, beispielsweise durch das James-Webb-Weltraumteleskop oder künftige Großteleskope. In der Zwischenzeit wird das VISTA-Teleskop weiter ausgebaut: Es erhält ein neues, noch leistungsfähigeres Infrarot-Spektrometer.
Quelle: Roberto Saito (Universidade Federal de Santa Catarina, Brasilien) et al., Astronomy and Astrophysics, doi: 10.1051/0004-6361/202450584