Als sie vorsichtig das Skelett des urzeitlichen Vogels aus der Sandsteinplatte freilegte, fiel ihr ein ungewöhnlich langer Fußknochen an der noch halb im Gestein eingebetteten zweiten Zehe auf. Eine halbe Stunde später war auch diese Zehe freigelegt. Verblüfft erkannte Catherine Forster, daß der rabengroße Urvogel aus Madagaskar tatsächlich am Hinterlauf eine sichelförmige Zehe wie ein Dinosaurier hatte.
Diese Sichelklaue hätte einem Velociraptor zur Ehre gereicht. Jene agilen, auf den Hinterbeinen laufenden Raubsaurier hat Steven Spielberg in seinem Dino-Schocker “Jurassic Park” eindrucksvoll in Szene gesetzt. Immer mehr Paläontologen sind inzwischen der Ansicht, daß unter den Reptilien die auf zwei Beinen laufenden, fleischfressenden Dromaeosaurier, zu denen der Velociraptor gehört, die nächsten Verwandten der Vögel sind. Ihre große Fußklaue war sehr beweglich und machte sie zu gefährlichen Jägern.
Was Catherine Forster an jenem Wochenende aus dem Gestein präparierte, war ein etwa 65 bis 70 Millionen Jahre alter Urvogel. Er stammt aus der Oberkreide Madagaskars – dem Abschnitt der Erdgeschichte, in dem es mit den Sauriern zu Ende ging und andere Lebenformen sich durchsetzten. Der auf den Namen Rahonavis ostromi getaufte Madagaskar-Urvogel sieht zwar aus wie ein Lehrbuchbeispiel für das lang vermißte Bindeglied der Evolution vom Saurier zum Vogel – das Dumme ist nur, daß er dafür eigentlich viel zu jung ist.
Der Madagaskar-Urvogel besitzt befiederte Flügel wie ein echter Vogel, hat aber auch einen langen, knöchernen Schwanz und eine Sichelklaue wie ein fleischfressender Dinosaurier. Er konnte vermutlich fliegen, war aber eigentlich ein Läufer. Was die überraschten Forscher indes vor ein Rätsel stellt, ist die Tatsache, daß Rahonavis rund 80 Millionen Jahre später als Archaeopteryx lebte und dennoch einen der primitivsten Vogelahnen überhaupt verkörpert.
Während andere Vogelahnen schon 60 Millionen Jahre früher begonnen hatten, aktiv und gewandt den Luftraum zu erobern, hat Rahonavis über Jahrmillionen primitive Dinosauriermerkmale bewahrt. Er war bereits damals ein “lebendes Fossil”, ein überholter Entwurf der Evolution.
Gerade deshalb aber ist Rahonavis ostromi für die Urvogel-Forscher so spannend. “Der Madagaskar-Vogel ist eine großartige Entdeckung”, schwärmt Dr. Peter Wellnhofer von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Historische Geologie in München. “Dieses Fossil ist ein wichtiges Indiz dafür, daß Vögel tatsächlich von Dinosauriern abstammen.”
Protarchaeopteryx und Caudipteryx, Archaeopteryx und Sinosauropteryx, Iberomesornis und Sinornis stellen vielmehr einzelne Seiten in einem Buch dar, auf dessen Handlung wir schließen, ohne die Abfolge der Kapitel wirklich zu kennen. Und manche Kapitel sind vielleicht nur Einschübe, die mit der eigentlichen bis heute dauernden Handlung gar nichts zu tun haben, Experimente, die die Evolution irgendwann abgebrochen hat. Alle Vogelfossilien zusammen sind immer noch lediglich Teile eines faszinierenden Puzzles, das über große Strecken noch kein klares Bild ergibt.
Catherine Forster beispielsweise, die den Madagaskar-Vogel Rahonavis bearbeitet, könnte zu einem Fehlschluß gekommen sein, weil sich bei ihrem Urvogel schlicht die Knochen eines kleinen räuberischen Dinos mit einem erst jüngst auf Madagaskar entdeckten urzeitlichen Vogel namens Vorona berivotrensis vermischt haben. Da das Rahonavis-Fossil tatsächlich unvollständig ist, kann Forster dieses Argument nicht vollständig entkräften. Die Forscher wollen deshalb jetzt eine weitere Expedition in den Nordwesten Madagaskars unternehmen. Catherine Forster weiß: “Wir können nur durch den Fund eines kompletten Skeletts die letzten Zweifel an der Identität unseres Urvogels ausräumen.”