Fällt Antimaterie in einem Schwerkraftfeld nach unten oder oben? Bisher ließ sich die Antwort darauf nicht eindeutig ermitteln, Physiker konnten nur vermuten, dass auch Antimaterie von der Gravitation angezogen wird und nach unten fällt. Jetzt ist es einem Team am Forschungszentrum CERN erstmals gelungen, Antiwasserstoff-Atome beim Fallen zu beobachten und die Wirkung der Schwerkraft auf Antimaterie direkt zu messen. Ihr Experiment ALPHA-g bestätigt, dass auch Antimaterie von der Gravitation angezogen wird. Die aus einer Magnetfalle freigesetzten Anti-Atome verhielten sich ähnlich wie normale Wasserstoffatome in der gleichen Situation: Die meisten von ihnen sanken nach unten. Allerdings ist die Fehlerspanne der Messungen noch relativ groß. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Schwerkraft zwar auf gleiche Weise, aber mit leicht abweichender Intensität auf Antimaterie wirkt. Ob das der Fall ist, müssen nun weitere Messungen klären.
Nach dem Standardmodell der Physik existiert für jede Teilchensorte der normalen Materie auch sein Pendant in Form von Antimaterie. Die Antiteilchen gleichen ihren Materiependants wie Bild und Spiegelbild, haben aber die entgegengesetzte Ladung, beispielsweise beim negativ geladenen Elektron und seinem positiv geladenen Antiteilchen Positron. Trifft Antimaterie auf normale Materie, kommt es zur Annihilation – beide Teilchen löschen sich gegenseitig aus und setzen dabei Energie frei. Unklar war jedoch bisher, wie sich Antimaterie gegenüber der Schwerkraft verhält: Wird sie angezogen wie normale Materie auch? Oder folgt sie einer Art Anti-Schwerkraft und bewegt sich in genau entgegengesetzte Richtung? Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie behandelt alle Formen der Materie gleich, sein schwaches Äquivalenzprinzip, das die Interaktion von Massen mit Gravitation beschreibt, müsste demnach auch für Antimaterie gelten. Allerdings war die Antimaterie im Jahr 1915 noch nicht entdeckt, sie wurde erst 1932 nachgewiesen.
Zwar legen theoretische Modelle und indirekte Schlussfolgerungen aus Experimenten schon länger nahe, dass auch Antimaterie “normal” auf die Gravitation reagiert, direkt experimentell belegen ließ sich dies aber bisher nicht. “Man könnte fragen, warum man nicht einfach das Offensichtliche getan hat und ein Stück Antimaterie fallen gelassen hat – ähnlich wie das Galileo zugeschrieben Fallexperiment mit Blei und Holz”, sagt Co-Autor Joel Fajans von der University of California in Berkeley und Mitglied der ALPHA-Kollaboration am CERN in Genf. “Das Problem ist jedoch, dass die Gravitationskraft so unglaublich schwach ist, verglichen mit elektromagnetischen Kräften.” Schon ein elektrisches Feld von einem Volt pro Meter übt eine 40 Billionen Mal stärkere Kraft auf ein geladenes Antimaterieteilchen aus als die Schwerkraft der Erde. “Bisher war es daher unmöglich, die Gravitationsreaktion beispielsweise eines Positrons mit einem Fallexperiment direkt zu messen, weil jedes elektrische Feld in seiner Umgebung das Antiteilchen weit stärker ablenken würde als die Schwerkraft”, erklärt Fajans.
Antiwasserstoff im Falltest
Das Problem liegt unter anderem darin, dass man lange nur einzelne geladene Antimaterie-Teilchen erzeugen konnte wie Anti-Protonen oder Positronen. Um zu verhindern, dass die Antimaterie mit normaler Materie in Kontakt kommt und ausgelöscht wird, müssen die Teilchen zudem in einer elektromagnetischen Falle in der Schwebe gehalten werden. Doch damit stehen sie unter dem Einfluss elektromagnetischer Felder – und dies verfälscht jede Messung der Gravitationsreaktion. Doch ein Durchbruch, den Physiker der ALPHA-Kollaboration am Forschungszentrum CERN bei Genf im Jahr 2010 erzielten, bot neue Perspektiven: Dem Team war es erstmals gelungen, Anti-Protonen und Positronen zu neutralem Antiwasserstoff zu kombinieren und diesen in einer Magnetfalle zu halten. Davon ausgehend begannen die Physiker anschließend, ein Experiment zu planen und zu konstruieren, dass erstmals eine direkte Messung der Reaktion von Antiwasserstoff auf die Gravitation erlauben sollte.
Im Jahr 2022 war das Experiment ALPHA-g fertig und das Team der ALPHA-Kollaboration begann mit den Messungen. Die Anlage besteht aus einer rund 25 Zentimeter hohen, zylindrischen Magnetfalle, in der jeweils rund 100 Antiwasserstoff-Atome auf einmal gefangen sind. “Die experimentelle Strategie ist vom Konzept her einfach: Man fängt und sammelt Antiwasserstoff-Atome, öffnet dann die Barrieren am oberen und unteren Ende der vertikalen Falle und versucht den Einfluss der Schwerkraft an ihrer Bewegung beim Entweichen aus der Falle und am Auslöschen an der Apparatewand abzulesen”, erklären die Physiker. Die gefangenen Anti-Atome sind zwar stark heruntergekühlt, bewegen sich dennoch mit rund 100 Meter pro Sekunde in der Falle umher. Sobald die Magnetbarrieren an den Enden schwächer werden und dann ganz wegfallen, entweichen sie nach und nach von allein. Wenn sie nun von der Erdschwerkraft angezogen werden, dann müsste ein Großteil des Antiwasserstoffs am unteren Ende der Falle austreten. Wirkt die Gravitation hingegen abstoßend auf Antimaterie, müssten die Anti-Atome bevorzugt nach oben aus der Falle herausgetrieben werden und sich dort bei Wandkontakt auslöschen. Die oben und unten angebrachten Detektoren zählen, wie viele Annihilationen oben und unten vorkommen.
Auch Antimaterie wird von der Schwerkraft angezogen
Jetzt liegt das Ergebnis dieser Messungen vor. Demnach entwichen rund 80 Prozent der Antiwasserstoff-Atome nach unten aus der Magnetfalle und wurden dort bei Materiekontakt ausgelöscht. Die Antimaterie verhielt sich damit fast genauso, wie es auch eine Wolke aus normalen Wasserstoffatomen in dieser Falle tun würde. Konkret ermittelten die Physiker, dass der Antiwasserstoff mit 0,75± 0,29 g von der Erdschwerkraft angezogen wird. Damit liegt das Messergebnis mit seiner Fehlerspanne in Bereich der normalen Erdanziehung von 1 g, wie das Team erklärt. “Wir haben damit ausgeschlossen, dass Antimaterie von der Gravitationskraft abgestoßen wird”, sagt Seniorautor und ALPHA-Kollaborations-Mitglied Jonathan Wurtele von der University of California in Berkeley. “Das gegenteilige Ergebnis hätte enorme Auswirkungen gehabt und würde dem schwachen Äquivalenzprinzip von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie widersprechen.”
Dem Team der ALPHA-Kollaboration ist es damit zum ersten Mal gelungen, die Wirkung der Schwerkraft auf Antimaterie direkt zu messen und die grundlegende Frage der Reaktion von Antimaterie auf Gravitation zu klären. “Wenn man die Physiker hier fragen würde, würden sie wohl alle sagen, dass sie dieses Ergebnis nicht im Geringsten überrascht”, sagt Wurtele. “Aber die meisten von ihnen würden auch sagen, dass dieses Experiment durchgeführt werden musste, weil man nie sicher sein kann. Physik ist nun mal eine experimentelle Wissenschaft.” Hinzu kommt: Noch sind die Messergebnisse relativ ungenau. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Antimaterie zwar auch von der Schwerkraft angezogen wird, aber vielleicht in abweichendem Maße. Das Team der ALPHA-Kollaboration hofft, diese Frage mithilfe genauerer Folgemessungen klären zu können. “Dieses Experiment ist erst der erste Schritt in der Entwicklung der neutralen Antimaterie-Forschung”, sagt Wurtele.
Quelle: ALPHA Collaboration, Nature, doi: 10.1038/s41586-023-06527-1