bild der wissenschaft: Sie haben vier Jahre lang trainiert, um zur ISS zu fliegen. Was hat Sie beim Training überrascht, Herr Gerst?
Alexander Gerst: Mir war vorher nicht bewusst, dass es zu großen Teilen aus Notfalltraining besteht, besonders im Jahr vor dem Start. Wir üben nicht den Normalfall, sondern die Ausnahme: 60 bis 70 Prozent meiner Zeit ‧habe ich in Modulen wie dem Sojus-Simulator gesessen und gelernt, richtig zu reagieren, wenn es beispielsweise brennt, wenn Instrumente ausfallen oder Chemikalien austreten.
Haben Sie denn ein bisschen Angst vor dem Flug?
Nein. Jeder kennt das Gefühl von Angst. Es entsteht, wenn man die Kontrolle verliert. Im Training analysieren wir deshalb potenziell gefährliche Situationen und üben, stets korrekt zu reagieren. So versuchen wir, emotionale Reaktionen wie Angst in Notfallsituationen zu vermeiden, um uns auf die wesentlichen Dinge konzentrieren zu können. Es gibt für alles, was man sich vorstellen kann, einen Plan A, B und C.
Und der Plan bei Unvorstellbarem?
Der Weltraum ist sicher keine lebensfreundliche Umgebung. Doch wir Menschen haben gelernt, wie man in solchen Umgebungen überlebt. ‧Lebensfeindliche Bedingungen habe ich beispielsweise während meiner Forschung in der Antarktis erlebt: Anfangs war ich skeptisch, ob ich es wochenlang bei minus 45 Grad Celsius im Zelt aushalten würde. Aber ich habe überrascht festgestellt, dass das nicht meine Grenze ist.
Auch die Ausbilder bei der ESA haben ‧versucht, Sie an Ihre Grenze zu bringen – beispielsweise beim Überlebenstraining: tagelang mit wenig Ausrüstung und kaum etwas zu essen in eisiger Kälte im Wald.
Ich dachte zwar manchmal: Ja, hier könnte meine Grenze liegen. Aber ich habe gemerkt, dass ich mehr aushalte, als ich mir vorstellen konnte. Das gilt selbst für das ‧Überlebenstraining oder das anstrengende Unterwasser-training, als ich sieben Stunden ohne Pause in einem schweren Raumanzug unter Druck anstrengende Arbeiten verrichten musste. Ich dachte anfangs, ich kann das vielleicht nicht – und habe dann gemerkt, dass es für mich machbar ist. Ich weiß also nicht, wo meine Grenze ist. Ich weiß nur, wo sie nicht ist.
Auf der ISS werden sie monatelang auf engstem Raum mit fünf anderen Astro‧nauten zusammenleben, die teilweise aus anderen Kulturen stammen oder aus Nationen, die sich auf der Erde nicht gerade grün sind.
Meine Erfahrung aus der Antarktis ist: Je schwieriger die äußeren Umstände, umso enger rückt das Team ‧zusammen. Auf der ISS arbeiten ehemals verfeindete Nationen schon seit Jahren eng und erfolgreich zusammen. Wir sind dort die einzigen Menschen, die nicht auf dem Planeten sind – das verbindet.
Gab es beim Training einen typischen ‧Arbeitstag?
Nein. Typisch ist eher das ständige Pendeln: drei Wochen Houston, drei Wochen Sternenstädtchen nordöstlich von Moskau, eine Woche Köln, eine Woche Japan – und dann wieder von vorne.
Da wird Ihr Alltag auf der ISS eintöniger sein. Wenn Sie so viel für Notfälle trainiert haben, wie gut sind Sie für Ihre eigentliche Arbeit vorbereitet – die wissenschaft-lichen Experimente?
Für die Betreuung der Experimente brauche ich nur zehn Prozent von meinem Können. Dennoch ist dies alles andere als eintönig. Ich bin selbst Wissenschaftler, und ich habe großen Respekt vor dieser Arbeit. Mir ist klar: Wenn ich einen Fehler mache, habe ich womöglich die Arbeit von vielen Jahren anderer Wissenschaftler zunichte gemacht. Deshalb habe ich mich gut darauf vorbereitet.
Gibt es ein Experiment, das Ihnen persönlich besonders am Herzen liegt?
Ich werde einen Schmelzofen aus dem Raumtransporter ATV5 übernehmen und ihn aufstellen. Darin testen wir neue Legierungen, die ihre wahren Eigenschaften nur in der Schwerelosigkeit preisgeben, weil sie für das Experiment nicht die Gefäßwand berühren dürfen. Diese Legierungen könnten später beispielsweise für effizientere Flugzeugtriebwerke genutzt werden.
Aber irgendwann müssen solche Legierungen auf der Erde hergestelllt werden. Was nutzen dann Experimente in der Schwerelosigkeit?
Wir sammeln diese Daten, um Computermodelle auf der ‧Erde zu verbessern. Mittels dieser Simulation wird dann die geeignete Legierung entwickelt. Das ist zwar erst mal aufwendig, spart aber Fehlversuche bei der Entwicklung.
Wie viel Ihrer Arbeitszeit werden die wissenschaftlichen Experimente auf der ISS einnehmen?
Wir haben über 100 Experimente an Bord. Die Crew meiner Mission, also meine beiden Kollegen und ich, werden mindestens 35 Stunden pro Woche an den Experimenten arbeiten, wahrscheinlich mehr.
Das sind rund 12 Stunden pro Woche für jeden. Was machen Sie in der restlichen Zeit?
Wir halten die Station am Laufen, das ist zeitintensiv. Etliche Experimente brauchen nicht viel Betreuung, man muss sie zum Laufen bringen und dann werden sie die meiste Zeit vom Boden aus gesteuert – wenn alles glatt geht.
Der Betrieb der ISS hat inzwischen 100 Milliarden Dollar gekostet. Wäre es nicht günstiger, eine unbemannte Forschungsplattform zu betreiben, die nur hin und wieder von Astronauten besucht wird?
So gesehen ist die ISS für viele Experimente eine robotische Forschungsplattform: Die meisten laufen von selbst, viele sind automatisiert. Aber die Flexibilität eines Menschen ist wichtig, beispielsweise wenn bei einem Experiment etwas Unerwartetes geschieht. Dann starten wir es noch einmal oder verändern Parameter. Dank der ISS braucht nicht jeder Wissenschaftler einen eigenen Satelliten zu bauen.
Deutschland zahlt jährlich 160 Millionen Euro für die ISS. Bekommen wir so wertvolle Erkenntnisse, dass sich das lohnt?
So darf man nicht rechnen. Jeder europäische Bürger bezahlt umgerechnet einen Euro pro Jahr. Das ist doch erschwinglich.
Bekommen wir denn wieder heraus, was wir hineinstecken?
Wir bekommen etwa fünf Euro für jeden in die Raumfahrt investierten Euro zurück. Die Wirtschaft hat ein riesiges Interesse. Ohne Raumfahrt hätten wir keine Satellitennavigation, keine Wettervorhersage, kein Satellitenfernsehen und große Lücken in der Grundlagenforschung.
Sind die Deutschen gegenüber der bemannten Raumfahrt besonders kritisch im Vergleich zu anderen Nationen?
Im Gegenteil. Deutschland ist ein Hochtechnologieland. Wir mischen immer vorne mit, wenn es um neue Technologien geht. Da gehört die Raumfahrt natürlich dazu, mit all ihren interessanten Sekundärtechnologien. Und mal ehrlich: Haben Sie schon jemanden getroffen, der Raumfahrt nicht faszinierend findet? Ich nicht.
Das mag auch an Ihrer Person liegen und an Ihrer Begeisterungsfähigkeit.
Das liegt auch an der Sache. Zusammen mit Frankreich und Italien sind wir eine der drei größten europäischen Raumfahrtnationen. Wir bauen den unbemannten Raumtransporter ATV und haben sehr viel Industrie in diesem Bereich. Zudem darf man den Nutzen der Raumfahrt nicht nur an wirtschaftlichen Faktoren messen.
Wieso nicht? Das ist für Skeptiker doch überzeugender als das Argument der Weltraumtouristin Anousheh Ansari, dass jeder Kriegstreiber friedlich werde, wenn man ihn ins Weltall schießen würde.
Ich weiß nicht, ob man Kriegstreiber dadurch überzeugen könnte. Aber es ist meine Vision, dass eines Tages jeder Mensch wenigstens einmal ins Weltall fliegt und die Erde von außen sieht. Wir würden dann mehr auf unseren Planeten achten. Astronauten erzählen, dass die Erde von außen wie eine winzig kleine Murmel wirkt, umgeben von einer hauchdünnen Atmosphäre.
Zurzeit wirtschaften wir die Erde aber eher herunter. Sind Sie als Astronaut auf der Suche nach neuen Lebensräumen für die Menschheit?
Es geht nicht darum, unseren Planeten kaputt zu machen und uns dann einen neuen zu suchen – das wäre Heuschreckenmentalität. Was uns motiviert, ist genau das Gegenteil: Von der Raumfahrt lernen wir, wie wir unseren Planeten schützen können, zum Beispiel durch Klimaforschung. Aber natürlich: Die Menschheit hat schon immer neue Lebensräume erschlossen, das wird im Weltraum nicht haltmachen.
Werden wir also künftig andere Planeten besiedeln?
Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Wir sind seit Hunderttausenden von Jahren Entdecker.
Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich vom Besuch des Mars?
Der Mars war einst der Erde ähnlich, jetzt ist er wüst und leer. Wie können wir vermeiden, dass uns ein ähnliches Schicksal ereilt? Diese Frage kann der Mars beantworten helfen. Und er kann uns wichtige Erkenntnisse über uns selbst vermitteln – über den Ursprung des Lebens und ob wir alleine sind im Universum.
Welche Rolle soll Deutschland bei einer künftigen Marsmission spielen?
In der Vergangenheit war Deutschland immer vorne mit dabei und hat davon profitiert. Ich hoffe und denke, dass eine Marsmission für uns wichtig genug ist, um in sie zu investieren.
Das Gespräch führte Eva Wolfangel