Die Hände des modernen Menschen gelten als typische Anpassungen an den aufrechten Gang und die Nutzung der Hände als Hilfsmittel, beispielsweise um Werkzeuge herzustellen. Denn die Fähigkeit, selbst kleinste Objekte präzise mit zwei Fingern zu greifen und gleichzeitig mit der Hand viel Kraft auszuüben, ist einmalig für den Homo sapiens. Anthropologen gehen daher meist davon aus, dass sich die moderne Hand und die ersten Steinwerkzeuge miteinander entwickelt haben. Doch gerade in jüngster Zeit sorgen Fossilfunde für einige Verwirrung. “Ein komplexes Muster bei der Handentwicklung wird immer deutlicher”, erklären Manuel Domínguez-Rodrigo von der Complutense Universität in Madrid und seine Kollegen. “Denn die Handknochen einiger Australopithecinen aus dem Pliozän sind sogar moderner als die von jüngeren Vormenschen des Pleistozäns.” Allerdings verraten sich die Handversionen der Australopithecinen meist an der Biegung ihrer Finger – einem Relikt einer ursprünglich baumlebenden oder zumindest kletternden Lebensweise.
1,84 Millionen Jahre alt und trotzdem modern
In der Olduwai Schlucht in Tansania haben die Forscher nun ein sehr altes und trotzdem erstaunlich modernes Handfragment entdeckt. Es handelt sich um den 1,84 Millionen Jahre alten Knochen eines linken kleinen Fingers. Er stammt damit aus der Zeit, in der in dieser Region noch Vertreter des Australopithecus lebten, aber auch schon der Homo habilis, der “geschickte Mensch”. Doch der neuentdeckte Fingerknochen weicht von den Handformen dieser frühen Menschenformen ab, wie die Forscher berichten. Stattdessen ähnelt der OH 86 getaufte Knochen eher Fingern der modernen Hand. Dafür spricht unter anderem das Verhältnis von Dicke zu Länge, die gerade, kaum gebogene Form des Knochens und eine stärker als bei den Australopithecinen abgeflachte Knochenbasis. “OH 86 ist damit der älteste Fingerknochen eines Homininen innerhalb des modernen Formenraums”, konstatieren Domínguez-Rodrigo und seine Kollegen. Erstaunlich daran: Obwohl der Homo habilis zeitgleich lebte und seine Relikte ebenfalls in der Olduwai-Schlucht unweit des jetzigen Fingerfunds entdeckt wurden, passen seine Finger noch nicht ins moderne Schema.
Das aber könnte bedeuten, dass der Finger einem Frühmenschen gehörte, der weder ein Homo habilis noch ein Australopithecus war. Seine Finger ähneln stattdessen eher denen von Vertretern des Homo erectus, die vor rund 1,5 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Kenia lebten. “Aber diese sind erheblich jünger als OH 86”, sagen die Forscher. Wertvolle Hinweise könnten Funde von Schädelfragmenten oder Zähnen des Besitzers von OH 86 liefern, doch diese wurden bisher nicht gefunden. Wem der Finger tatsächlich gehörte und ob es in der Olduwai-Schlucht vor rund 1,84 Millionen Jahren vielleicht eine noch unbekannte Menschenart gab, bleibt daher vorerst im Dunkeln. Klar scheint nur, dass sich entscheidende Merkmale der modernen menschlichen Hand offenbar früher entwickelten als bisher angenommen.