Wer der Gnade einer späten Geburt – am besten ab etwa 1970 – nicht teilhaftig wurde, sondern in den Jahrzehnten davor das Licht der Welt erblickt hat, kennt das noch: den jagenden Puls beim Gang zum Zahnarzttermin, die nassen Handflächen, den Kampf mit der Übelkeit im Wartezimmer.
Dann das Platznehmen im Marterstuhl. Das Zusammenzucken, wenn der Doktor mit seinem Haken die kariösen Stellen im Gebiss auf ihre Tiefe ausforschte. Das Surren des Bohrers, während die Hände sich um die Lehnen des Stuhls krampften. Und der wie ein Blitz einschlagende, schier das Schädeldach hebende Schmerz, wenn der Bohrer in Nervennähe kam.
Heute ist das, dank der Segnungen moderner Zahnmedizin, Vergangenheit. Der Gang zum Zahnarzt hat seinen Schrecken verloren. Und auch die Zahnfäule Karies hat nicht mehr den Stellenwert wie damals.
Ende der Sechzigerjahre war Karies in Deutschland noch eine weit verbreitete Volkskrankheit. Nur ein Prozent der Kindergartenkinder hatte ein rundherum gesundes Milchgebiss – bei den bleibenden Zähnen im Schul- und Erwachsenenalter sah es dementsprechend trostlos aus. Da machte Ende der Siebzigerjahre die Nachricht Furore, dass so genannte Zuckeraustauschstoffe in breit angelegten Studien die Neubildung kariöser Schäden verhindert hatten.
Diese Stoffe – beispielsweise Sorbit, Mannit, Lycasin, Maltit, Palatinit und der besonders viel versprechende Kandidat Xylit – wurden von den Studienbetreibern anstelle des üblichen Rohr- beziehungsweise Rübenzuckers Saccharose in Kaugummis, Bonbons, Lutschern, Marmeladen und anderen Süßwaren als Süßungsmittel eingesetzt. Normalerweise „verdauen” die Mundbakterien im Zahnbelag (Plaque) den gebräuchlichen Haushaltszucker Saccharose zu zahnschmelzlösenden Säuren. Doch die in den Studien eingesetzten Süßungs-Vertreter konnten von den Bakterien nicht oder nur sehr langsam abgebaut werden und unter weit geringerer Säurebildung.
In dem Beitrag „Xylit statt Zucker” in bild der wissenschaft 4/1981 zeichnete der Zahnmedizin-Professor Friedrich Gehring ein hoffnungsvolles Bild. Es gipfelte in dem Satz: „Vielleicht kann der Zuckeraustausch sogar eines Tages zur neuen Hauptwaffe im Kampf gegen die Karies werden.”
Der Kampf scheint heute entschieden. Die einstige Volkskrankheit taumelt in Mittel- und Westeuropa am Rand der Niederlage. In der Schweiz, dem europäischen Mekka moderner Zahnhygiene, ist der Rückgang am größten. Thomas Imfeld, Zahnmedizin-Professor an der Universität Zürich: „Derzeit liegt die Kariesreduktion bei Kindern und Jugendlichen gegenüber dem Jahr 1964 bei 90 Prozent. Deutschland ist nur knapp dahinter und hat die Schweiz fast eingeholt.”
Ein Triumph der Zuckeraustauschstoffe, wie 1981 prophezeit? Imfeld rückt das zurecht: „Diese Stoffe sind das Tüpfelchen auf dem ,i‘, wenn in Sachen Zahnhygiene ansonsten alles stimmt. Sie haben besonders bei den Naschereien zwischen den Mahlzeiten – Softdrinks, Kaugummis, Pastillen, Bonbons – ihren zahnmedizinischen Wert. Aber der mit Abstand größte Schlag gegen die Karies war die Fluoridierung der Zahnpasta.”
In der Schweiz fanden schon 1960, in Deutschland dann Mitte der Siebzigerjahre, die Zahnpasten mit Fluorid Verbreitung. Zunächst in Deutschland misstrauisch beäugt – Kritiker fürchteten Schäden am Zahnschmelz durch zu viel Fluor –, sind diese Zahnpasten heute Standard. Unverzichtbar ist trotzdem das regelmäßige Entfernen von Speiseresten und Zahnbelag durch Zahnbürste und Zahnseide.
„Der Zucker per se”, führt Imfeld aus, „ist gar nicht der Urfeind der Zähne – es geht nur um die Verteilung über den Tag. Angenommen, man isst mittags eine richtige ,Zuckerbombe‘, etwa eine ganze Torte, und sonst an diesem Tag keine zuckerhaltigen Nahrungsmittel mehr: Dann gibt es nur einen einzigen Zuckerangriff auf die Zähne, der durch das Zähneputzen nach der Mahlzeit beendet ist. Nimmt man jedoch über den ganzen Tag immer wieder Schlückchen einer saccharosehaltigen Limonade und diverse Süßigkeiten zu sich, dann summiert sich das zu zahlreichen Zuckerattacken – das begünstigt Karies.” Bei Kleinkindern seien zuckerhaltige Getränke in der Nuckelflasche wegen des langen Zahnkontaktes absolutes Gift für die eben erst durchgebrochenen Milchzähne.
Diese vielfachen Zucker-Dosen „zwischendurch” mithilfe von Zuckeraustauschstoffen aus dem Speiseplan zu drängen, sei sehr sinnvoll. Welcher Stoff verwendet werde, sei medizinisch weitgehend bedeutungslos und hänge vor allem von den produktionstechnischen Anforderungen des Herstellers ab.
Am teuersten ist Xylit. Ein Kilogramm schlägt mit rund 6 Euro zu Buche. 1981, zu Zeiten des Gehring-Artikels in bild der wissenschaft, wurde die Substanz noch aus Birkenrinde hergestellt und kostete ein Mehrfaches des heutigen Preises. Heute wird die Vorstufe Holzzucker (Xylose) aus Maispflanzen und aus den Rückständen der Zuckerrohrproduktion gewonnen und zu Xylit hydriert.
Glaubt man den Aussagen herstellernaher Agenturen und Zahnärzte, dann hemmt Xylit die kariogenen Bakterien der Mundflora, ja er soll die Remineralisierung von vorgeschädigten Zähnen fördern. „Beides ist umstritten”, kommentiert Imfeld. „Im Laborversuch kann man zwar beobachten, wie das Wachstum von Streptococcus-mutans-Bakterien auf einem xylithaltigen Medium zum Stillstand kommt. Aber was passiert in der Mundhöhle eines Menschen? Die wenigen Studien mit Versuchspersonen sind nicht aussagekräftig genug.”
Dass dieser angebliche „aktiv kariespräventive” Aspekt des Xylits aus seiner Sicht nicht nachgewiesen ist, stört den Schweizer Forscher indes überhaupt nicht. „Mir reicht es vollkommen, dass Xylit und die anderen Zuckeraustauschstoffe ,passiv kariespräventiv‘ sind: Sie bewirken, dass weniger zahnschädliche Saccharose konsumiert wird. Deswegen sind sie sehr nützlich. Sie müssen doch überhaupt nicht bakterienhemmend sein!” Thorwald Ewe■