Wintergewitterwolken jagen über den Himmel und treiben die Dämmerung voran. Hienieden hetzen die Wölfe durch die schwarzen Wälder, und ihr Geheul scheucht späte Wanderer heim in die Weiler. Still steht im Jahr 1946 das einzige Zeichen von Fortschritt in dieser Allah-verlassenen Ecke Kleinasiens, wo die Mittelmeerküste nach Süden abknickt: Ein Lastwagen hat schlapp gemacht auf der Karawanenstraße.
Die Gelehrten auf der Ladefläche atmen auf, werden sie doch dank des Halts wieder Herr ihres Bewegungsapparates. Um der Wissenschaft willen schlingerten und schlotterten sie acht Stunden, denn Ziel der Reise und der Wünsche sind Felsreliefs aus uralten Zeiten.
Kurz vor dem letzten Krieg wurden in Zentral- Anatolien die archäologischen Zeugnisse der Hethiter ausgegraben. Das in der Bibel erwähnte, aber ansonsten “verschwundene” Volk avancierte rasch zur Hätschel-Hochkultur der Archäologen – wegen seiner Herkunft (indogermanisch) und seiner großartigen Hauptstadt (Hattusa, siehe auch “Der Brief aus Bronze” bild der wissenschaft, 6/1994). Der deutsche Keilschriftexperte Helmuth Bossert, jetzt Lenker der halsbrecherischen Querbergein-Fahrt, ist versessen auf alle Lebenszeichen des einst mächtigen Hethiter-Reichs “Hatti” und fährt deshalb jedem Hinweis in die Bronzezeit nach.
Mit von der Rüttelpartie ist Halet éambel, die Bossert nach langem Werben als Assistentin gewinnen konnte. Im Hinterland ihres Vaterlands fühlt sich die Türkin fast fremder als der Pfälzer, orientierte sie sich doch von klein auf am europäischen Westen. An der Spree 1916 als Enkelin des osmanischen Botschafters geboren, verbrachte sie ihre Kindheit in Bern, Wien und Südtirol. Am Bosporus besuchte sie das amerikanische College und studierte in Paris an der Sorbonne.
Als der Diesel-Esel vor nunmehr 51 Jahren in der anatolischen Wüstenei nicht mehr laufen mochte, mußten sie und Bossert zur nächsten Ansiedlung gehen – bestimmt die Frau der Tat. Ein alptraumhafter Beschluß: Mit einem Hagelschlag bricht die Nacht herein, der Forschertrupp – Museumsdirektoren und Topographen – kriecht in einem verfallenen Haus unter. Die aufrechten Zwei waten weiter des Wegs. Im Eissturm sind sie bald halb erfroren, und das Wolfsgeheul läßt das Blut in den Adern erstarren. Schließlich geben Lichter Hoffnung, doch davor tobt ein Bach, den die Dauerschauer zum Wildwasser hochpeitschen. Die beiden Forscher schreien sich heiser, bis die Hirten sie hören. Dank Ketten packt ein Trecker gerade noch die Furt und holt Bossert und Halet éambel über zu den Wärmeflaschen mit Anisschnaps.
Wegen der Sintfluten sitzen sie eine Woche im Nomadennest fest, schauen und hören sich aber emsig um. Die gesuchte Kunst am Fels erweist sich dabei als Skulptur der Natur und nicht von den Hethitern geschaffen. Die Enttäuschung wird weggewischt durch das Hirtengetuschel, ganz in der Nähe gäbe es massenhaft “Aslantas” – Löwensteine, im Reich Hatti die Hüter der Herrscherbastionen. Ins Auge gesprungen sind sie einem der Weiden-Pendler neben der Karawanenstraße “Weißer Weg”, wo sie den “Schwarzen Berg” passiert – der “Karatepe” wird zum Symbol der neuen Forscher-Sehnsüchte. Zu Pferde drängen sie sich von der Kreisstadt Kadirli aus tief in den Busch, der sie am dichten Ende ruppig aus den Sätteln peitscht. Mit Messern müssen sie die Macchia teilen. Plötzlich stehen sie im Holzgefilz der ersten Raubkatze gegenüber – der Lianenüberzug kann ihre Herkunft nicht verschleiern: Die steinerne Bestie stammt aus hethitischem Gehege.
Aus dem Rankenkäfig befreien die Altertumsforscher eine ganze Menagerie – da tanzt sogar ein Bär auf den hingewürfelten Reliefs. Grün überwuchert tauchen zudem Schriften auf, was Bosserts Herz höher schlagen läßt. Der Altphilologe sieht semitische Lettern, die man entziffern kann. Daneben identifiziert er Hattis Hieroglyphen, die allerdings in jenen fünfziger Jahren bis auf wenige Symbole noch eine Schrift mit sieben Siegeln sind.
Die Sprache ist durch Funde in der Hauptstadt Hattusa seit den zwanziger Jahren entschlüsselt, weil die Hethiter ihre Alltagsangelegenheiten auf Tontafeln in assyrisch-babylonischer Keilschrift festhielten – das entlarvte Hattis Sprache als indogermanisches Idiom. Große Worte jedoch faßten die bronzezeitlichen Großmacht-Herrscher in eine Bilderschrift, wohl ureigenste geheime Zeichen aus dunkler Vergangenheit der Hethiter-Kultur.
Hier Basalte mit Hieroglyphen, da Blöcke mit bekannten Buchstaben – sollte das Bosserts Stein von Rosette werden? Dieser mehrsprachig abgefaßte Gedenkobelisk vom Nil war eine Art Prä-Wörterbuch, mit dem um 1820 die ägyptischen Hieroglyphen über den griechischen Ko-Text entziffert werden konnten. Alle Sprachforscher träumen von einer solchen “Bilingue” – und so hat Bossert nur Augen für die Schrift auf den Reliefs. Halet éambel schaut den Hethitern lieber in die Augen, die steinernen Gesichter sind aussagekräftiger – der ägyptische Einfluß zum Beispiel ist unübersehbar. Beide Entdecker sind sich einig: Karatepe ist eine Grabung wert.
Ein knappes Jahr später haben sie die Mittel und Mitarbeiter zusammen und erschließen bis 1950 die Tore von Hattis letzter Bastion. An der Nordpforte dräut ein Sphinxpaar zur Begrüßung, dahinter ein Löwenduo. Die Wände des Burgflurs sind mit zahlreichen Tierreliefs geschmückt – ein wahrer Zwinger. Die beiden Forscher entdecken weitere Inschriften an den Wänden und auf den Tierleibern – rechts die unlesbaren Hieroglyphen, links die phönizische Darstellung.
Den Einlaß im Süden hüten ebenfalls die Könige der Tiere, dahinter empfangen – in Stein gebannte – Musikanten und Zecher die eintretenden Gäste. Das innere Burg-Areal – 195 mal 375 Meter – überblickte damals ein Riese, der jetzt baumlang im Gang auf der Erde liegt.
Daß dies der allmächtige Wettergott ist, macht der frühere Schloßherr selbst publik: Der Hethiter stellt sich und sein Werk in der phönizischen Sprache mit semitischen Lettern vor: “Ich bin Azatiwatas”, grüßt er aus der Vorzeit. “Ich baute diese Festung und gab ihr den Namen Azatiwataya. Und setzte darin den Wettergott ein.” Der Erbauer der Grenzfestung half den Archäologen beim Datieren: Er artikulierte sich in Altphönizisch, das so unverfälscht nur im 8. Jahrhundert v. Chr. in Gebrauch war.
“Da blieb uns die Sprache weg”, spaßt Halet éambel in der Rückschau. “Bis zu unserem Fund in Karatepe herrsch-te ja die Lehrmeinung, das Reich Hatti sei um 1200 v. Chr. gänzlich von der Bildfläche verschwunden. All die Jahrhunderte und tief in der Provinz aber hat sich seine Kultur erhalten, und die hier am Schwarzen Berg ist keineswegs provinziell!”
Weit weg von Azatiwatas’ Zuflucht im Süden waren dessen Ahnen einst daheim. Die ursprüngliche Heimat der Hethiter vermutet die Wissenschaft am Schwarzen oder Kaspischen Meer. Im 17. Jahrhundert v. Chr. hatte es die Völkerwanderer nach Kleinasien verschlagen, wo sie sich schnell mit ihren alten Vorstellungen und Hieroglyphen etablierten, um dann kräftig zu expandieren. Die Senkrechtstarter der Bronzezeit eignen sich bei ihren Zügen durch die vorderasiatische Region Religionen und Götter der eroberten Gebiete oder benachbarter Staaten an. So usurpieren sie mit Babylon 1531 v. Chr. auch Baal; aus Ägypten stammt der Fruchtbarkeitsgott Bes.
Mit der Großmacht am Nil mißt sich Hatti 1275 v. Chr: In der Schlacht von Kadesch überrollen brandneue Kampfwagen made in Hattusa die Truppen Ramses II., was aber der Pharao zwischen den Zeilen seiner Hieroglyphen versteckt. Neben dem Nilland ist Hatti zu jener Zeit die Supermacht der Alten Welt, bis innere Zerwürfnisse und der Sturm der sogenannten Seevölker um 1200 v. Chr. auch das Reich der Hethiter zu Fall bringen. Mit Hattusa versinkt die Hochkultur in Schutt und Asche – außer in ihren letzten Bastionen in den versteckten Winkeln Anatoliens.
Zum Beispiel in Karatepe, wo rund 400 Jahre später Hethiter-König Azatiwatas in den Wandinschriften mit seinem Reich “vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang” prahlt (siehe “Des Herrschers Lob-Gedicht”, Seite 86). Die Ausdehnung seines Staatsgebietes ist bis heute unbekannt, seine Hauptstadt “Pahri” noch immer nicht gefunden. Da er nach eigener Einschätzung weise und friedliebend ist, koexistiert Hattis letzter Herrscher mit den Anrainern. Die Phönizier zum Beispiel sieht er von seiner Festung am Ceyhan auf Tour: Den Fluß hinab flößen sie Zedern zur Mittelmeerküste, über die Karawanenstraße karren sie ihre Waren nach Inneranatolien.
In seiner Muttersprache und Vorväterschrift ist Azatiwatas in den fünfziger Jahren noch wortlos, weil die Ausgräber die geheime Schrift auf der rechten Wand nicht auf die Reihe bekommen: In den hethitischen Hieroglyphen klaffen große Lücken, 45 Prozent aller Schriftblöcke übersäen als Bruchstücke das Gelände. Wie aber die Teile zusammengehören, ist – wie die Schrift – ein Rätsel.
Nach Bosserts abruptem Rückzug aus dem Projekt gebietet “anerzogenes, eingewurzeltes Verantwortungsbewußtsein” Halet éambel zu bleiben, obwohl sie unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen leidet. Das Dach über dem Kopf besteht aus Segeltuch, zum Einkaufen muß sie stundenlang reiten. Dabei offeriert Kadirlis Bazar nur Gerste und Salz; werden einmal Schaufeln gebraucht, ist eine “Weltreise” nach Adana vonnöten.
Auf den kontemplativen Besorgungsritten reift bei Halet éambel der Plan, Azatiwatas Burg vor Ort zu erhalten, die Fundstücke also nicht ins Museum zu verfrachten. Für ein Freilichtmuseum muß aber des Hethiters Haus so repräsentabel werden wie einst. Hilfe findet die Forscherin bei einem Besuch im römischen Instituto Centrale del Restauro. “Schicken Sie mal Ihre Sachen rüber”, meinen gönnerhaft die Restauratoren. In Anbetracht der Trümmer müssen dann allerdings doch die Profis zum Berg kommen. Das wissenschaftliche Geduldsspiel beginnt 1951.
Völlig ohne Vorlage wird gepuzzelt, denn die Bilder bauen keine Brücken: Die Künstler schufen in Karatepe manch verquere Kreatur, statt Füßen verpaßten sie den Kämpen Hufe oder gar Wagenräder. Die Farbe führt in die Irre, da je nach Lage Luft oder Erde die Fragmente nachschattierten. Nur an den Basalt kann man sich halten, da all die dunklen Stücke mit Sicherheit vom Hieroglyphenfries stammen.
Ein Wahnsinnspuzzle mit Tausenden grauer Teile, bei dem man sich nur an den Bruchkanten orientieren kann. Im Schlaf kommt meist die Erleuchtung – und im Schummer der Funzeln werden nach und nach die Wände vollständig, bis die Deuter endlich ihre Sternstunde haben: Azatiwatas wiederholt seine aus den phönizischen Inschriften bekannten Lobpreisungen in Hethitisch-Luwisch, einer Abwandlung der in Hattusa einst üblichen Schreibweise.
Seine Hinterlassenschaften bewahren heute moderne Schutzdächer, aber Azatiwatas’ Archäologin hat neue Sorgen: Den Ceyhan will man stauen. Das würde die Wälle Karatepes gefährlich unterhöhlen. Halet éambel antichambriert in den Ministerien Ankaras und bringt die Planer auf ihre Seite. Die Löwin von Azatiwataya drückt die Staudammhöhe um 40 Meter und rettet die Hethiter so vor neuem Untergang.
Still ruht der Stausee im Spätherbst 1996. Die Zikaden sind starr vor Frost, und auch die Wildenten schweigen unter der Kältehaube des Nachtnebels. Halet éambel schält sich im Grabungshaus aus den Kelims. Nicht immer schlüpft die 81jährige so früh aus dem Teppichlager, doch heute will sie den Sechs-Uhr-Bus in die Kreisstadt Kadirli erreichen: Die Arbeiter warten auf Lohn, und ihre Assistenten haben auch einmal wieder eine Kostabwechslung verdient.
Sie selbst ißt seit Tagen nur Trauben. “Deutschland sitzt mir noch in den Knochen”, erklärt sie ihre Kur. “Und die mir fremde Müdigkeit will ich schnell wieder loswerden.” Zwei Monate hat sie in Berlin ihre letzte Publikation lektoriert. Zwölf Stunden pro Tag Karatepes Hieroglyphen auf dem Computerbildschirm – das macht nicht nur die Augen müde.
Der archäologische Fuhrpark besteht derzeit aus einem Traktor, und auf diesem zugigen Gefährt rumpelt Halet éambel hinunter zur Bushaltestelle. Der Kleinbus ist voll und somit mollig. Im Bazar ist’s schon geschäftig, und bald türmen sich Gemüsesteigen und Kartons rund um die Archäologin.
Mit einem Auto sollen Gäste aus Deutschland kommen, und diese einmalige Chance will sie nutzen. So sortiert sie um Koffer und Kameras ihre Einkäufe und packt dem verdutzten Fotografen noch einen Studenten auf den Schoß. Nur auf dem Papier ist sie emeritierte Professorin, denn nach wie vor schart sie Schüler um sich. Die kommen aus aller Welt und aus allen Ekken des Landes – zur Grand Old Lady der türkischen Archäologie. Mit den Gästen wieder daheim in Karatepe, geht Halet éambel an ihr eigentliches Tagwerk: Die Hieroglyphen sind dechiffriert, sie liest nun die Bilder: Die Wandreliefs erzählen vom Leben und Treiben der letzten Hethiter; die Gesichter der Götter sprechen für sich – dann kehrt bei Halet éambel ein, wie zu Azatiwatas’ Zeiten, “Wohlsein und Herzensfrieden”.
Das Hethiter-Reich – Großmacht im Orient
Nach 1600 v. Chr.: Mit Hattusili I. beginnt die hethitische Ära in Anatolien. Hattusa ist und bleibt Regierungssitz bis zum Untergang des Großreiches Hattusa.
1531 v. Chr.: Die Hethiter erobern schließlich auch Babylon und machen ihr Reich “Hatti” groß.
1275 v. Chr.: Schlacht bei Kadesch. Der Hethiter-König Muwatalli II. überrollt mit den neuen “Kampfwagen” die Ägypter, und Ramses II. muß sich geschlagen geben. Hatti wird Supermacht der Alten Welt.
etwa 1259 v. Chr.: Vertrag mit Ägypten, der “ewigen” Frieden sichern soll. Die Ehe der hethitischen Königstochter mit dem Pharao soll die Großmächte auch familiär verbinden.
um 1200 v. Chr.: Hofintrigen und Bürgerkrieg sind der Anfang vom Ende des Großreichs. Hatti ist geschwächt und fremde Eroberer (“Seevölker”) haben leichtes Spiel. Hattusa versinkt in Schutt und Asche.
nach 1200 v. Chr.: Am Rande des einstigen Reichs halten sich Hethiter in letzten Bastionen, wie Karatepe und Domuztepe.
um 700 v. Chr.: Assyrische Truppen zerstören Karatepe und löschen Hatti endgültig aus.
Waltraud Sperlich