26495Die meisten Besucher, die das riesige Gebäude im idyllischen Murray Hill – eine halbe Autostunde westlich von New York – betreten, wissen, was die großen roten Leuchtziffern in der Eingangshalle zu bedeuten haben. Nicht die Uhrzeit wird hier angezeigt oder wie üblich der Aktienkurs des Unternehmens, sondern die Zahl der Patente seit 1925 prangt auf dem Display. Am Abend, wenn Angestellte und Gäste die Zentrale der berühmten Bell Labs wieder verlassen, ist die Zahl nicht mehr dieselbe: 26497 ist dann zu lesen. Drei Patente mehr an einem Werktag – für den Mutterkonzern Lucent Technologies, zu dem die Bell Labs gehören, ist das Durchschnitt.
Die Zahl allein ist beeindruckend genug, die Exponate, die hinter der Leuchtanzeige ausgestellt sind, treiben jedem, der sich nur ein Fünkchen für Technik interessiert, einen wohligen Schauer über den Rücken. Da steht er, der erste Transistor, der heute miniaturisiert billionenfach in Computern, Handys, Waschmaschinen eingebaut ist und unsere Industriegesellschaft am Leben hält. Oder der erste Laser, ohne den es keine CD-Player und schnellen Datennetze gäbe. Daß auch die Tonfilmtechnik, die erste Solarzelle, der erste Nachrichtensatellit, die Mobilfunktechnik, die Leuchtdiode und Tausende anderer nützlicher Dinge hier erfunden wurden, wundert einen da kaum noch.
Picobello eingerichtete Büros, in denen Forscher in feinem Tuch gekleidet sitzen und geniale Einfälle zu Papier bringen – unwillkürlich tauchen Bilder vor dem geistigen Auge auf, wie es in den heiligen Hallen hinter dem Empfangstisch aussehen könnte. Natürlich sind die Vorstellungen falsch. Dasselbe kreative Chaos in den Büros und Labors, die vor lauter Meßinstrumenten aus den Nähten platzen, mit Wissenschaftlern, die hier genauso aussehen wie überall auf der Welt: ohne Anzug, sondern im T-Shirt.
Ein bißchen größer – amerikanischer eben – sind die Bell Labs aber doch: Korridore, die rund eine Viertelmeile lang sind und an deren Ende Menschen zu winzigen Punkten schrumpfen. Gebäude, die ein Riese scheinbar planlos aufs Gelände gewürfelt hat und in denen sich selbst langjährige Mitarbeiter nur mit Karte und gutem Schuhwerk zurechtfinden. Und das ist bloß der kleinere Teil der Bell Labs, die nach glorreichen Jahrzehnten beim Telefonkonzern AT&T seit 1996 zu Lucent Technologies gehören: In Holmdale, eine Autostunde weiter südlich, befindet sich ein weiteres Gebäude, das wie ein umgekippter Wolkenkratzer aussieht. Die Glasfassade hat wahrhaft gigantische Ausmaße. Innen wachsen Bäume, ein Café und Ausstellungen laden zum Verweilen ein. Jeweils mehrere tausend Wissenschaftler arbeiten an den beiden Standorten Murray Hill und Holmdale, insgesamt beschäftigen die Bell Labs in 20 Ländern 25000 Wissenschaftler, von denen rund 1500 in der Grundlagenforschung arbeiten.
Während die Wirtschaft ihre Forschung verschlankt und das Wort „lean” (schlank) zum Grundvokabular eines Managers gehört, scheint in den Bell Labs der Überfluß zu herrschen. Jeder Mitarbeiter hat eine Kreditkarte, mit der er sich alles kaufen kann, was er für seine Arbeit braucht. Was darf es sein: Büromaterial, ein neuer Computer, ein neues Meßinstrument? Geht alles auf Kosten des Hauses, ohne daß auch nur ein einziges Formular ausgefüllt wird. Natürlich gibt es Grenzen, auch für die Nobelpreisträger, von denen die Bell Labs mittlerweile elf hervorgebracht haben. „Manchmal fühle ich mich wie ein Kind, das im Sandkasten spielen darf”, sagt Jim West, der sich seit 44 Jahren bei den Bell Labs mit Akustik beschäftigt und 1962 das Folien-Electret-Prinzip entwickelt hat, das heute in 90 Prozent aller Mikrofone eingebaut ist.
Wenn es im Diesseits ein Paradies für Forscher gibt, dann liegt es in New Jersey – das wird in jedem Gespräch deutlich. Die Begeisterung und Dankbarkeit, hier arbeiten zu dürfen und das Bewußtsein, zur Weltelite zu gehören, ist allgegenwärtig. Kein Wunder, daß sich jedes Jahr 150000 Wissenschaftler bewerben, von denen nur etwa 1000 – die besten ihres Fachs – eingestellt werden.
Auch die Stelle der Physikerin Claire Gmachl war begehrt. Die Österreicherin war zwei Jahre lang als Postdoc bei den Bell Labs und wurde dann vor zwei Jahren auf eine feste Stelle übernommen – was eine besondere Auszeichnung ist. „Hier sind die besten Leute, hier ist es extrem aufregend und motivierend”, sagt die erst 32jährige stolz, die an der Weiterentwicklung des revolutionären Quantenkaskaden-Lasers beteiligt ist.
Doch die Bell-Labs-Forscher sitzen keineswegs im Elfenbeinturm – die eigenen Ansprüche erzeugen auch Leistungsdruck: Besser sein als die Kollegen im Nachbarlabor, besser sein als andere Arbeitsgruppen an Unis oder bei anderen Firmen. Das Vertrauen in den Ehrgeiz der Mitarbeiter ist groß und der Einfluß, den die Lucent-Manager auf die Forscher ausüben, vergleichsweise gering. „ Einmal im Jahr müssen wir über unsere Arbeit berichten”, sagt Xina Quan, die preisgünstige Kunststoff-Fasern entwickelt, um damit eines Tages die teuren Glasfasern in Telekommunikationsnetzen zu ersetzen. „Falls nötig, wird das Forschungsziel geändert oder eine Firma ausgegründet, wenn die Forschung nicht mehr zu Lucent-Produkten paßt.” Erst die Verknüpfung mit einem erfolgreichen Unternehmen – früher AT&T, heute Lucent – mache den Reiz der Bell Labs aus, sagt Xina Quan: „Man sieht die Früchte seiner Arbeit.” Diese Früchte machen sich auch im eigenen Geldbeutel bemerkbar: Jeder Mitarbeiter hat Lucent-Aktien und profitiert vom Erfolg des Unternehmens.
Um diese Früchte nicht zu verschenken, beschäftigt Lucent Dutzende Mitarbeiter, die sich um nichts anderes als Patente kümmern. Die „Abteilung für effiziente Forschung” dagegen, die auch hierzulande als Vorbild in die Presse kam, wird derzeit „ umstrukturiert” – faktisch existiert sie gar nicht mehr. Für die „ Kernwissenschaftler” wie die rund 1500 Grundlagenforscher im Lucent-Jargon heißen, hat sie sowieso nie eine Rolle gespielt. Solange ein Arbeitsgebiet entfernt Hoffnung gibt, es könnte eines Tages dem Geschäft von Lucent nutzen, wird es unterstützt. In boomenden Gebieten, zum Beispiel in der Tieftemperaturphysik, die noch blanke Grundlagenforschung ist, mischt man aus Prinzip mit, um auf alles vorbereitet zu sein. In der Abteilung für Physik und Ingenieurwissenschaft sind die Hälfte aller Forschungsprojekte auf einen Zeithorizont von 5 bis 10 Jahren ausgerichtet. Die übrigen versprechen gar erst in 20 Jahren praktischen Nutzen.
Das fabelhafte Image der Bell Labs nutzt auch dem Mutterkonzern. Als 1996 Lucent – der Name steht für Helligkeit und Glanz – als Abspaltung des Ex-Telefonmonopolisten AT&T gegründet wurde, kannte niemand die Firma mit dem roten Kringel im Firmenlogo. Die Bell Labs dagegen kannte jeder. Also entschloß sich Lucent, mit seinen Pfunden zu wuchern: Die Hauptverwaltung wurde in die Bell- Labs-Zentrale in Murray Hill integriert, und am Eingangsportal, auf Türschildern, Visitenkarten, und T-Shirts prangt jetzt „Lucent Technologies – Bell Labs Innovations”. Damit ist die Gewichtung klar: Die Bell Labs sind nicht alles, aber ohne die Bell Labs ist bei Lucent alles nichts.
Doch auch die Bell Labs haben profitiert. Anfang der Neunziger zielte das Geschäft von AT&T vor allem auf Dienstleistungen im Telefonbereich ab. Entsprechend wurden die Forschungsziele für die Bell Labs zurechtgebogen: Die langfristige physikalische Grundlagenforschung, die vorher rund 80 Prozent der Aktivitäten ausgemacht hatte, wurde zugunsten von Software-Entwicklung und Netzwerk-Technik auf weniger als die Hälfte gesenkt. Heute beträgt der Anteil 50 zu 50 und hat sich damit wieder etwas zugunsten der physikalischen Forschung zurückverschoben, weil Lucent im Markt als reiner Hersteller von Kommunikations-Hardware auftritt. „Lucent ist das Beste, was den Bell Labs passieren konnte”, ist Horst Störmer überzeugt. Der deutsche Physiknobelpreisträger von 1998 arbeitet seit 22 Jahren bei den Bell Labs.
Heute leistet sich Lucent sogar wieder Astrophysiker, die das All nach Dunkler Materie absuchen. Die Entdekkung der kosmischen Hintergrundstrahlung als Relikt des Urknalls hatte zwei Bell Labs Physikern 1978 sogar den Nobelpreis eingebracht. Doch der pure Wunsch nach einem tieferen Verständnis des Universums reicht nicht mehr als Motiv: Lucent erhofft sich die Entwicklung neuer LCD-Chips für digitale Kameras und verbesserte Software zur Bildverarbeitung. Auf die Frage, wie sich die Bell Labs auf den immer härteren Konkurrenzkampf der Zukunft einstellen, erntet man deshalb nur verdutzte Gesichter – so groß ist das Vertrauen in die eigene Kreativität und Innovationsfähigkeit. „Am besten, man läßt einfach alles so wie es ist”, empfiehlt Horst Störmer.
Bernd Müller