Es könnte zum Wissenschaftsbuch des Jahrzehnts werden, das neue Buch des amerikanischen Zoologen und doppelten Pulitzerpreisträgers Edward O. Wilson. Schon zweimal hat Wilson die Welt der Biologie revolutioniert – und ein gutes Stück der übrigen Gesellschaft immer gleich mit. Mit seinen Veröffentlichungen zur Soziobiologie vollendete er Darwins Werk und stieß dem Menschen die selbstverliehene “Krone der Schöpfung” wieder vom Kopf, weil er ihn als zufälliges Produkt der Evolution gleichberechtigt neben die anderen Arten setzte. Wilson war auch der erste, der den Wert der Artenvielfalt für das Überleben auf der Erde so in Worte faßte, daß die Politiker beim historischen Erdgipfel in Rio das Thema Artenschutz gleich hinter die Klimaproblematik einordneten.
Jetzt hat Wilson sich den Wissenschaftsbetrieb selbst vorgenommen. Seine Abrechnung liest sich wie ein witziges Feuilleton – mit Anekdoten, Histörchen und Seitenhieben. Dabei verliert Wilson sein Anliegen nie aus den Augen. Er beklagt die zunehmende Kleingärtnerei immer höher spezialisierter Spezialisten, die über der Beschäftigung mit ihren Gemüsebeeten den Garten vergessen. Die Wissensmenge nimmt explosionsartig zu, aber wer, fragt Wilson, behält dabei den Überblick, und wie kann der Mensch von den Erkenntnissen profitieren? “Wir ertrinken in Wissen”, schreibt er, “und dürsten dabei nach Einsicht. Wir sind hochbegabte Schmalnasenaffen, deren Erfolg die Welt zerstört. Wir wissen mehr über unser Auto als über unser Gehirn. Es ist an der Zeit, uns mit all unseren intellektuellen Werkzeugen als gleichzeitig biologische und kulturelle Spezies zu erkennen.”
Dazu ist es nötig, meint Wilson, daß die Wissenschaften sich wieder aufeinander zubewegen. Erst ihre Synthese mache es möglich, die Erkenntnisse zu gewinnen, die Ideen zu finden und die Ethik zu schaffen, die die Welt braucht, um ihre Probleme zu lösen. Das geht, behauptet Wilson, weil alle Wissenschaften einen gemeinsamen Ursprung haben: Die Evolution brachte das Gehirn hervor, das Gehirn die Wissenschaften. Deshalb müsse es möglich sein, alle Phänomene der Natur, des Geistes und der Kultur wieder auf einige alles verbindende Prinzipien zurückzuführen.
Daran sei doch schon Einstein gescheitert, halten ihm Skeptiker entgegen, und der habe nur versucht, die Physik zu vereinheitlichen. Und das wolle dieser Ameisenforscher für alle Wissenschaften erreichen – nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, die Ökonomie und die Philosophie?
Besonders die Philosophen fühlen sich getroffen. Der These, daß die Philosophie sich nur mit dem beschäftige, was die Naturwissenschaften noch nicht gelöst haben – was immer weniger wird -, können sie zwar nicht widersprechen. Um so vehementer setzen sie sich gegen die Forderung zur Wehr, daß auch die Philosophie endlich wissenschaftlicher werden möge, wenn man sie weiterhin ernst nehmen solle. So könne nur ein naiver Biologist reden, erregen sie sich.
Es stimmt: Wilson hat bislang nur Mißstände angeprangert und Abhilfe gefordert. Doch auch seine früheren Ideen brauchten mindestens zehn Jahre, bis schließlich alle Welt von ihnen überzeugt war.
Edward O. Wilson Die Einheit des Wissens Siedler Berlin 1998 448 S., DM 49,90
Jürgen Nakott / Edward O. Wilson