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Wie lebendig ist die Erde?

Allgemein

Wie lebendig ist die Erde?
Die neue Gaia-Hypothese. Zum erstenmal seit vier Millionen Jahren vermehren sich die Menschen langsamer. Weil die Umweltverhältnisse sie bremsen? Beginnt die Erde sich zu wehren? Die 30 Jahre alte Gaia-Debatte lebt wieder auf.

Ein Hund ist für Milliarden Bewohner die ganze Welt: Läuse, Flöhe und Zecken, Bakterien und Viren tummeln sich auf und in ihm. Erst wenn eine Art sich übermäßig vermehrt, das ausbalancierte Miteinander durch ungezügelten Nährstoffverbrauch stört und mit ihren Ausscheidungen den Lebensraum Hund vergiftet, versucht der, die Plage loszuwerden. Sein Immunsystem tötet Zellen, er hungert sie biochemisch aus und blockiert ihre Fortpflanzung. Meßbares Zeichen des Kampfes ist die gestiegene Körpertemperatur. Auch die Erde – gleichermaßen besiedelt von allerlei Getier – fiebert, ein Wärmerekordjahr folgt dem anderen. Der Grund ist die Aktivität von sechs Milliarden Menschen. Auf die hat es nun anscheinend ein weltumspannendes Immunsystem abgesehen. Alte und neue Krankheitserreger töten jährlich mehr Menschen. Auf übernutzten und vergifteten Ackerböden hungert ein Siebtel der Menschheit. In den übervölkerten Städten der reichen Nationen übertönen Störsignale den Ruf der Natur “Seid fruchtbar”. Binnen zwei Generationen soll etwa die Einwohnerzahl Deutschlands von 81 auf 65 Millionen sinken. Hat James Lovelock mit seiner Gaia-Theorie also recht behalten? Der britische Atmosphärenchemiker stellte vor 30 Jahren die Behauptung auf, die Erde (griechisch “Gaia”) verhalte sich wie ein lebender Organismus. Ihr oberstes Ziel sei es, die Umweltbedingungen lebensfreundlich zu erhalten – nicht zum Vorteil einer Art, sondern zum Erhalt der Biosphäre. An Universitäten und Stammtischen wurde diskutiert über ein “bewußtes” Eingreifen der Erde in den Naturhaushalt. Über eine Spanne von vier Milliarden Jahren – seit es Leben gibt – erwies sich das System als stabil genug, um alle Störungen abzufedern – auch wenn die Evolution zuweilen eine ganz neue Richtung einschlug. Auch auf die aktuelle Bedrohung der Biosphäre, den Menschen, scheint Gaia zu reagieren. Am Beginn des neuen Jahrtausends ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Art erstmals gebremst.

Wahrscheinlich werden künftig viel weniger Menschen die Erde strapazieren. Denn würden alle Menschen im gleichen Wohlstand leben wollen wie der Durchschnittsdeutsche heute, brauchte man die Ressourcen von zwei Erden, hat das “World Watch Institute” ausgerechnet. Wollten zehn Milliarden so leben wie die US-Amerikaner anno 1999, müßten sie sich gar auf vier Erden verteilen. Weil das nicht geht, nimmt der Druck der Umwelt auf den Störfaktor Mensch zu. Wie, das diskutiert eine Koalition von Gaianern der zweiten Generation. Ökologen, Geokybernetiker und Atmosphärenchemiker versuchen gemeinsam, die Wechselbeziehungen von Stoffen und Leben im System Erde besser zu verstehen. 1998 wurde dazu die Forschungsgemeinschaft “Gaia Science” gegründet. Einer ihrer Wortführer ist der New Yorker Biologe Prof. Tyler Volk. In seinem Buch “Gaias Körper” verabschiedet er das Konzept von einem Superorganismus. Er beschreibt die Erde nicht mehr als Lebewesen. Was er beibehält, ist die Idee von einem globalen Metabolismus, einem lebensähnlichen System mit einem wechselwirkenden und rückkoppelnden Stoffwechsel. Sein Stoffkreislauf funktioniert wie ein Blutkreislauf, Produktion und Verbrauch von Sauerstoff und CO2 gleichen der Atmung, sein Energiehaushalt dient dazu, extreme Temperaturschwankungen kurzfristig zu regulieren. In diesen Stoffwechsel kann als einzige Art der Mensch aktiv zum eigenen Vorteil eingreifen. Seine Chance besteht laut Volk darin, das System zu verstehen und seine technischen Einflußmöglichkeiten zur Stabilisierung einzusetzen: “Gaia zeigt, wie alles Handeln alles betrifft und irgendwann als Reaktion zurückkommt. Wichtig ist deshalb, sich als Teil von allem zu fühlen, nicht als Ausbeuter der Rohstoffe auf Kosten anderer.” Wäre er so vernünftig, könnte der Mensch sorgloser in die Zukunft schauen. Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Direktor des Wuppertal-Instituts Klima, Umwelt, Energie, trommelt seit Jahren für sein “Faktor-4”-Konzept: Er hält es für möglich, mit einem Viertel des heutigen Rohstoffverbrauchs auszukommen, ohne Lebensstandards zu senken. Auch der Potsdamer Physiker und Systemökologe Prof. Hans-Joachim Schellnhuber vertritt die Ansicht: “Die Erde besitzt noch riesige Reserven und könnte bei weisem Management und einsichtigem Verhalten aller auch 20 Milliarden Menschen in Würde (er)tragen.” Doch 20 Milliarden auf Ausgleich statt auf eigenen Vorteil bedachte Menschen kann sich auch Schellnhuber nicht vorstellen. Deshalb setzt er hinzu: “Gemessen an seinem heutigen Verbrauchsverhalten würde eine Zahl von zwei bis drei Milliarden die Sicherung eines robusten Wohlstands für alle gewaltig erleichtern.” Denn Tatsache ist, daß die Ressourcen begrenzt sind. Wäre die Erde ein Lebewesen, könnte es sich vermehren, wie ein Hund, dessen Nachkommen neuen Flöhen, Zecken und Bakterien zum Biotop wird. Die Erde gleicht aber eher einem Aquarium: Es können dauerhaft nur so viele Fische darin leben, wie durch nachwachsende Algen Futter finden. Wie viele Algen es geben kann, hängt letztlich allein von der Sonne ab. Prof. Hartmut Graßl, Direktor des Weltklimaforschungsprogramms in Genf, ist überzeugt: “Der Mensch kann natürliche Regulationsmechanismen nicht außer Kraft setzen. Aber er kann so leben, daß er sie gar nicht erst auslöst.” Er empfiehlt: “Weg von Kohle, Öl, Uran, hin zur direkten Nutzung der Sonnenenergie.” Die einen nennen diese Zusammenhänge Gaia. Für andere ist es die wahrscheinlich fundamentalste Ökologie der Welt.

Jürgen Nakott

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