Der Schauer überrascht uns am falschen Ort, und gerade jetzt haben wir keinen Regenschirm! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das letzte Stück des Weges ungeschützt durch den strömenden Regen zu laufen.
Wir stellen uns vorläufig unter und überlegen: langsam gehen oder rennen, so schnell wir können? Gehen wir langsam, bieten wir dem Regen über längere Zeit eine kleinere Fläche. Laufen wir schnell, wird unsere größere Vorderfront naß, wenn auch während kürzerer Zeit. Was ist günstiger?
Wie naß wir von vorn werden, hängt in Wirklichkeit nicht von der Dauer, sondern nur von der vorgegebenen Entfernung ab, vorausgesetzt, es regnet gleichmäßig und senkrecht von oben. Können wir unsere Chance, so trocken wie möglich zu bleiben, auf andere Weise verbessern als durch Laufen?
Das Regenproblem, über das schon verschiedentlich geschrieben wurde, ist in Deutschland in diesem Frühjahr durch einen Bericht der Wochenzeitung “Die Zeit” mit dem wortschöpferischen Titel “Dem Regen entrennen” neu belebt worden, der sich auf einen aktuellen Dialog in der Zeitschrift “Weather” gründet.
Zur Beschreibung des Vorgangs nehme ich den Standpunkt ein, von dem aus betrachtet er mir am einfachsten erscheint: Ich bin es selbst, der in den Regen hineinläuft. Dadurch wird das Problem für mich zum statischen, abgesehen davon, daß ich, um zu laufen, nicht nur den Körper als Ganzes, sondern auch Arme und Beine bewegen muß. Aus meiner Sicht geht es nicht mehr darum, einen Weg zurückzulegen. Nur die Dauer des Regens zählt, den ich schräg von oben (unter dem Winkel α) auf mich zukommen sehe – auch wenn ein ruhender Beobachter feststellt, daß es schnurgerade senkrecht von oben auf die Landschaft regnet.
Die (effektive) Geschwindigkeit Ueff, mit der der Regen aus meiner Sicht fällt, setzt sich geometrisch aus der Fallgeschwindigkeit U des Regens – über alle Größen von Regentropfen gemittelt, denn große Tropfen fallen schneller als kleine – und der Geschwindigkeit V zusammen, mit der sich die Landschaft scheinbar auf mich zubewegt. Zwar bewegen sich nicht alle Körperteile mit gleicher Geschwindigkeit, zum Beispiel nicht Arme und Beine, die einen gar nicht unerheblichen Teil der vom Regen erfaßten Körperoberfläche ausmachen, für die Gesamtmenge des Regenwassers aber, das im Laufe längerer Zeit auf der Körperoberfläche landet, kommt es nur auf eine mittlere Geschwindigkeit V an, die ich mit der Geschwindigkeit des Rumpfes gleichsetze.
Regenschatten: Die Wassermenge Q, die der Regen in der Zeiteinheit auf dem Körper ablädt, wächst außer mit der effektiven Geschwindigkeit des Regens mit dessen Dichte ρ (der Masse des Regenwassers im Luftvolumen) und mit dem “Regenschatten” meiner vom Regen getroffenen Körperoberfläche.
Ebenso wie Gegenstände im Sonnenlicht Schatten werfen, wirft ein Körper im Regen, dessen Tropfen in seiner Umgebung wie Sonnenstrahlen geradlinige parallele Bahnen beschreiben, einen mehr oder weniger scharfen “Regenschatten”. Den Flächeninhalt des Schattens, den der Körper auf eine zum Regen senkrecht gedachte Projektionsebene wirft, nenne ich die Schattenfläche F des Körpers. Sie hängt unter anderem von der augenblicklichen Körperhaltung ab und von der Richtung α, aus der der Regen kommt. Dadurch ist sie auch von der Laufgeschwindigkeit V abhängig. Die beiden Einflüsse können sich teilweise kompensieren, zum Beispiel, weil der Läufer sich in Laufrichtung nach vorn lehnt.
Die Regendichte: Um eine Vorstellung von der Regendichte ρzu geben, führe ich die Stromdichte ρU des Regens (Gramm pro Quadratmeter und Sekunde) auf die wetteramtliche Angabe “Millimeter Niederschlag” pro Stunde zurück. p Millimeter Niederschlag nehmen pro Quadratmeter Grundfläche p tausendstel Kubikmeter Raum ein. Eine Stunde hat 3600 Sekunden, und die Wasserdichte beträgt 1 Kilogramm pro Liter. Das ergibt die Stromdichte ρU = (p/3,6)g/m²s (Gramm pro Quadratmeter und Sekunde).
Wenn in einem typischen Beispiel p = 36 Millimeter Niederschlag gleichmäßig über eine Stunde verteilt mit einer mittleren Tropfengeschwindigkeit von U = 5 m/s fallen, befinden sich 2 Gramm Regenwasser im Kubikmeter Luft. Das ist viel weniger als die Regendichte einer Badezimmerdusche, die den Zweck hat, jemanden schnell naß zu machen. Jetzt läßt sich leicht die Wassermenge Q angeben, die in der Zeiteinheit auf den Körper fällt: Q = ρFUeff.
Angenommen, während des Regens sei ein Weg der Länge d zurückzulegen. Bei der konstanten Laufgeschwindigkeit V dauert das die Zeit t = d/V. Bleibt der Wasserstrom Q während dieser Zeit unverändert, ist M = ρFUeffd/V die Gesamtmasse des Wassers, die beim Lauf auf den Körper herunterregnet.
Der einfachste Fall: In der Regel fällt der Regen senkrecht. Für den Läufer kommt er dann aus der Richtung α, deren tanα = V/U ist, nach Pythagoras mit der effektiven Regengeschwindigkeit Ueff = √ U2+V2. Um die Regenmenge bestimmen zu können, die der Körper auf der Strecke d einsammelt, muß außerdem die Schattenfläche F bekannt sein, die der Regen unter dem Einfallswinkel a zeichnet.
Man könnte dazu den Schatten des Körpers im Sonnenlicht abbilden und seine Fläche ausmessen. Das wäre eine mühsame Prozedur. Außerdem fehlt es leider im Augenblick an der Sonne, da es nach Voraussetzung regnet. Es erscheint deshalb sinnvoll, ersatzweise den Schatten eines einfacher gestalteten Körpers zu studieren.
Ein aufrecht stehender Quader mit der Deckfläche A und der dem Regen zugewandten Seitenfläche S läßt sich durch eben diese zwei Parameter A und S beschreiben. Für ihn gilt bei Winkeln α zwischen 0 und 90 Grad der Zusammenhang F(α) = A cosα + S sinα. Beachtet man dazu cosα = U/Ueff und sin&alpha = V/Ueff, findet man sofort M = ρd(S + A x U/V).
Was kann man tun, um möglichst wenig naß zu werden? Da man weder auf die Dichte ρnoch auf die Fallgeschwindigkeit U des Regens Einfluß hat und sich ebensowenig die Distanz d aussuchen kann, bleiben nur wenige Möglichkeiten. Die eine, so schnell wie möglich zu laufen und damit U/V zu verkleinern, stößt rasch an eine Grenze. Wenn zum Beispiel die Regentropfen mit der Geschwindigkeit U = 5 m/s fallen, was für große Tropfen kein Kunststück ist, bleibt V/U kleiner als 2, denn bei V = 10 m/s liegt schon der Weltrekord im Sprint.
Untersucht man aber die Abhängigkeit der Regenmenge M von der Laufgeschwindigkeit V etwas genauer, findet man, daß M bei V = U schon sehr nahe an seinen kleinsten Wert ρSd herankommt, der sich im Grenzfall unendlich großer Laufgeschwindigkeit V ergeben würde. Eine geringe Verbesserung des Ergebnisses wäre nur bei unverhältnismäßig großer Steigerung der Laufgeschwindigkeit möglich.
Eine andere Möglichkeit, weniger Regen abzubekommen, bietet die Verkleinerung der Schattenfläche. Aber sich kleiner zu machen wäre beim Laufen sehr hinderlich. Oder sollte man etwa seitwärts laufen wie ein Krebs, um dem Regen nur die Schmalseite des Körpers darzubieten? Das wäre auch keine intelligente Lösung.
Für ein Zahlenbeispiel wählen wir A = 0,1 m² und S = 0,5 m², woraus sich das Verhältnis A/S = 0,2 ergibt, das der Grafik oben zugrundeliegt. Bei mäßigem Regen der Dichte r = 2 g/m³ und der Fallgeschwindigkeit U = 5 m/s erntet man, wenn man mit der Geschwindigkeit V = 5 m/s läuft, auf der Distanz d = 100 m die Wassermenge M = ρd(S + AU/V) =2x 100(0,5+0,1)g=120 g. Im normalen Fußgängertempo V = 4 km/h (Kilometer pro Stunde) würde man dagegen schon M = 190 g Wasser aufnehmen.
Verbesserungen der Abschätzung gibt es wichtige und weniger wichtige. Wir bleiben dabei, daß der Regen senkrecht falle (b = β, modellieren aber die Gestalt des Läufers genauer durch einen Quader, der in Laufrichtung um den Winkel γ geneigt ist. Zwischen der Neigung γ des Läufers und seiner Laufgeschwindigkeit V besteht ein empirischer Zusammenhang. Ich habe ihn nicht studiert und muß deshalb später über γ eine Annahme treffen.
Aus den Grafiken ist zu entnehmen, daß die Schattenfläche F von den Flächen A und S nur über die Diagonale D = √ A2+S2 abhängt. Solange die Neigung des Läufers γ kleiner als der Winkel α+δ bleibt (und das wird vorausgesetzt), gilt F = Dsin(α+δ-γ). Dabei ist tand = A/S. Daher wird im verbesserten Modell auf der Distanz d die Regenmenge M = ρDUeff(d/V)sin(α+δ-γ) aufgesammelt.
Nehmen wir γ = 30 Grad an, ergeben sich unter sonst gleichen Bedingungen für den Läufer wie im obigen Beispiel nur noch M = 63 Gramm Wasser, eine Verminderung um fast 50 Prozent. Da Fußgänger aufrecht gehen (γ = 0), gilt für sie die vorherige Abschätzung der Regenmenge: M = 190 g. Also folgt für dieses Beispiel, daß sich durch schnelles Laufen die unvermeidliche Nässe auf ein Drittel verringern läßt.
Einige Fragen sind offengeblieben, zum Beispiel, wieviel Regen von der Kleidung wirklich aufgenommen wird. Darauf Antwort zu suchen, überlassen wir dem Leser.
Wolfgang Bürger