In kaum einem anderen Forschungszweig kommen und gehen neue Theorien so schnell wie in der Paläoanthropologie. Fast jeder Fund sorgt für Aufregung und läßt die Frühgeschichte des Menschen in einem völlig anderen Licht erscheinen. Immerhin konnten die Anthropologen bisher wenigstens mit zwei Konstanten rechnen: Der moderne Mensch Homo sapiens soll vor etwa 100000 Jahren seine afrikanische Wiege verlassen und vor etwa 50000 Jahren den australischen Kontinent besiedelt haben.
Gleich zwei neue Funde – der erste in Australien selbst, der zweite im Norden Kenias – stellen jetzt diesen zeitlichen Rahmen der Besiedlung der Erde durch den modernen Menschen in Frage.
Im tropisch-heißen Nordterritorium Australiens, nahe dem Örtchen Kununurra, entdeckte ein Grabungsteam um Prof. Richard Fullagar vom Australian Museum in Sydney eine eigenartige Ansammlung massiver Felsbrocken. Die Aborigines nennen diesen Ort “Jinmium”. Die Monolithen sind mit Tausenden von gut daumengroßen Dellen übersät, deren Tiefe und Größe kaum mehr als ein paar Millimeter voneinander abweichen. Die Forscher interpretieren diese bislang unbekannte Art von Felsgravuren als älteste Kunst der australischen Ureinwohner. Sie sind doppelt so alt wie die erst 1994 entdeckten Felsmalereien in der Höhle von Chauvet im Tal der Ardèche in Frankreich. Diese sind vor rund 30000 bis 32000 Jahren entstanden und galten bislang, zusammen mit der Höhlenkunst in Grotten Namibias, als älteste Bilder der Welt. Was die australischen Ureinwohner mit ihren sehr zeitaufwendigen Felsgravuren bezweckten, bleibt ein Rätsel.
Als Fullagar in den durch Überschwemmungen und Wind angehäuften Sedimenten am Fuß der Jinmium-Felsen nach Spuren menschlicher Zivilisation suchte, wurde er in etwa 1,4 Meter Tiefe fündig: Er stieß auf Ockerspuren, die er auf ein Alter von 116000 Jahren datierte. Mit Ockerfarbe malen die Aborigines seit Urzeiten ihre ebenso geheimnisvollen wie eigenwilligen Felsenbilder.
In den untersten Sedimentschichten am Fuß der Jinmium-Monolithen kamen außerdem Steinartefakte ans Licht, die den Ureinwohnern als Werkzeug gedient haben könnten. Sie liefern Hinweise, daß die Besiedlung Australiens vielleicht schon vor 116000 bis 176000 Jahren begonnen hat – mehr als 100000 Jahre früher als bislang angenommen.
Richard Fullagar, der seit 1992 zusammen mit Kollegen vom Australischen Museum in Sydney sowie von der benachbarten Wollongong Universität die Ursprünge der australischen Zivilisation erforscht, stützte sich bei der Datierung der Sedimente auf die Thermolumineszenz-Technik. Die Methode funktioniert, wenn das Sediment Quarzkristalle enthält und lange Zeit im Boden verborgen war. Durch die natürliche Radioaktivität des Bodens werden in den Quarzkristallen hin und wieder Elektronen angeregt. Ihre Zahl läßt sich im Labor messen, indem das Sediment kontinuierlich bis zum Rotglühen erhitzt wird. Je länger das Sediment im Dunkeln geruht hat, um so mehr angeregte Elektronen gibt es und um so heller leuchtet die Probe im Ofen. Der Haken: Wenn das Sediment längere Zeit ans Tageslicht kommt, wird die Uhr wieder zurückgestellt.
Die Kritik an Fullagars Daten und an seiner Interpretation, die Aborigines seien die ältesten Künstler der Menschheit gewesen, ließ nicht lange auf sich warten. Einige Wissenschaftler, darunter Nigel Spooner von der Australian National University (ANU) in Canberra, vermuten, daß einige der Sediment-Proben aus der Umgebung der Jinmium-Monolithen Ablagerungen verschiedenen Alters enthalten. Die Aborigines könnten Jinmium über lange Zeiträume als Kultstätte besucht und dabei durch Graben tiefere Sedimentschichten umgelagert und freigelegt haben. So könnten sich Diskrepanzen der Altersbestimmung erklären, die auch Fullagar in seiner Arbeit erwähnt.
Fullagar überprüft derzeit mit den australischen Thermolumineszenz-Experten Dr. Richard Roberts von der La Trobe University und Prof. Rhys Jones von der ANU weitere Proben aus den fraglichen Sedimenten. Roberts hatte bereits 1990 für Aufsehen gesorgt, als er Spuren menschlicher Siedlungen in Australien auf ein Alter von wenigstens 50000 Jahren schätzte.
Ünterstützung für Fullagars These kommt aus einem gänzlich anderen Forschungsgebiet. Der Paläoökologe Peter Kershaw von der Monash Universität in Melbourne untersuchte Bohrproben, die er vom Meeresgrund zwischen Indonesien und Australien entnommen hat. Sie enthalten Kohle- und Pollenreste, die sich vor mehr als 130000 Jahren dort abgelagert haben, als die Küste Australiens wegen des niedrigeren Meeresspiegels rund 600 Kilometer weiter im Norden verlief. Über kohlehaltigen Lagen aus dieser Zeit fand Kershaw Pollen feuerresistenter Pflanzen. Der Paläoökologe vermutet, daß die Aborigines ganze Landstriche abgebrannt und die Vegetation drastisch verändert haben. Für diese These spricht, daß es trotz vieler weltweiter Klimaveränderungen in den letzten 10 Millionen Jahren in den Bohrproben keine weiteren Spuren eines auch nur annähernd so extremen Vegetationswechsels gibt.
Obwohl der Meeresspiegel während der Eiszeiten deutlich tiefer lag als heute, war Australien nie direkt über Landbrükken mit dem indonesischen Archipel verbunden. Auch vor 140000 Jahren stand der Besiedlung Australiens durch die Ahnen der Aborigines eine mindestens 60 Kilometer breite Meeresstraße im Weg. Die ersten Australier müssen also mit Booten und in Gruppen übers Meer gekommen sein. Wer aber Boote hat, muß zur Koordination bei Bootsbau und Überfahrt auch eine Sprache besitzen. Die Datierung der Jinmium-Funde wäre somit zugleich der indirekte Beleg dafür, daß Menschen bereits vor mehr als 116000 Jahren sprechen konnten.
Wenn allerdings Australien schon deutlich früher als vor 100000 Jahren besiedelt wurde – sind dann die Ahnen des modernen Menschen noch früher aus Afrika ausgewandert?
Der australische Anthropologe Colin Groves von der ANU hält es für möglich, daß der Mensch bereits vor 200000 Jahren Afrika verlassen hat. Er favorisiert nach wie vor die “Out of Africa-Hypothese”, nach der sich Homo sapiens aus dem afrikanischen Homo erectus entwickelte und erst anschließend auswanderte.
Nach Ansicht von Alan Thorne, ebenfalls von der ANU, spräche die frühe australische Besiedlung eher für die von ihm und Milford Wolpoff entwickelte Hypothese einer multiregionalen Entstehung des modernen Menschen. Demnach hätte sich Homo sapiens unabhängig in verschiedenen Regionen der Erde – darunter eben auch in Australien – aus erectus-Formen entwickelt.
In das Bild vom frühen Auszug des modernen Menschen aus Afrika fügt sich der jüngste Fund eines wenigstens 270000 Jahre alten Hominiden in Ileret am Turkana-See im Norden Kenias. Schädel und Oberschenkelknochen stammen nach Ansicht des Hamburger Paläoanthropologen Prof. Günter Bräuer von einem späten archaischen Homo sapiens, dem “fast modernen Menschen”. Die afrikanische Wiege der Menschheit läge dann rund 100000 Jahre weiter zurück als bislang belegt ist.
Damit zeichnet sich auch in Afrika ein neues Bild der Entstehung des Homo sapiens ab. Bräuer vermutet, daß sich bereits vor 500000 bis 700000 Jahren aus dem Frühmenschen Homo erectus der erste Homo sapiens entwickelte, und daß der späte archaische Mensch bereits vor rund 300000 Jahren in Afrika lebte.
Demnach hatten unsere Ahnen genug Zeit zum Auswandern gehabt, selbst um schon vor etwa 170000 Jahren in Australien zu erscheinen.
Matthias Glaubrecht