Immer mehr Menschen wandern aus den Stadtkernen in die Peripherie ab. Forscher sahen bisher die Siedlungsstruktur in den Außenbezirken mit vielen Ein- und Zweifamilienhäusern als Mitursache für den stetig anwachsenden Autoverkehr an. Gängige These: Weil die Wege zwischen den verschiedenen Orten für Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitgestaltung immer länger werden, steigen die Vorstädter zunehmend von umweltverträglichen Verkehrsmitteln auf den eigenen Pkw um. Prof. Gerhard Bahrenberg von der Universität Bremen wollte wissen, ob diese simple Logik stimmt. Dabei stützte er sich auf Daten, die bei den beiden letzten Volkszählungen 1970 und 1987 erhoben wurden. Seine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie kommt für den besonders stauanfälligen Berufsverkehr am Morgen und Abend zu überraschenden Ergebnissen. Bahrenberg und seine Mitarbeiter konnten nachweisen: Die Distanzen zwischen Arbeitsplatz und Wohnort in den 23 Stadtteilen der Stadt Bremen und den innerhalb eines Radius von 30 Kilometern gelegenen Umlandgemeinden haben von 1970 bis 1987 nicht wesentlich zugenommen. Im Durchschnitt wuchsen die Entfernungen von 7,4 Kilometer auf 9,1 Kilometer. Für denselben Zeitraum ist in fast der Hälfte aller Umlandgemeinden sogar der gegenläufige Trend festzustellen: Die Berufswege verkürzten sich deutlich. Gleichzeitig mußten Berufstätige, die innerhalb der Stadt Bremen wohnten und arbeiteten, 1987 durchschnittlich 1,2 Kilometer mehr zurücklegen als 1970. Der Grund: In den Städten angesiedelte, traditionelle Industriefirmen bauten Personal ab oder gaben auf. Neue Arbeitsplätze entstanden dagegen bevorzugt an der Peripherie. Die Suburbanisierung der Industrieunternehmen bringt also die Arbeitsplätze teils sogar wieder näher an die Wohnorte der Menschen heran. Somit ist die Behauptung, die aufgelokkerte Siedlungsstruktur der Vorstädte zwinge die Menschen zu mehr Autofahren, nicht länger haltbar – zumindest nicht für die Hansemetropole. Zwar ermittelten die Wissenschaftler für 1987 einen Pkw-Anteil am Berufsverkehr der gesamten Stadtregion von 62 Prozent – 22 Prozent mehr als 1970. Doch nur rund ein Siebtel der Wechsel zum Auto sind auf längere Wege zurückzuführen. In 86 Prozent der Fälle wurden Fußgänger, Fahrradfahrer und Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs ohne wirklich zwingenden Grund zu Automobilisten. Über eine Änderung der Siedlungsstruktur, so die Folgerung, läßt sich motorisierter Individualverkehr demnach nicht oder nur unwesentlich verringern. Bahrenbergs These: „Ein hoher Pkw-Anteil im Personenverkehr ist vor allem eine Folge des materiellen Wohlstands – keinesfalls die Folge zu langer Wege.” Der Bremer Forscher argumentiert: Kein anderes Fortbewegungsmittel verspreche mehr individuelle Mobilität als der private Pkw. Deshalb hält er eine Abkehr vom Automobil für „kaum wahrscheinlich” – und auch nicht für notwendig. Die bestehenden Umweltnachteile der Fahrzeuge zu vermindern, sei sinnvoller, als den motorisierten Individualverkehr reduzieren zu wollen.
Peter Wittmann