Zugegeben: Etwas Sportsgeist ist schon dabei, wenn sich Wissenschaftler hartnäckig den kompliziertesten Problemen widmen mit dem Ziel, der Erste, der Beste, der Schnellste oder der Größte zu sein. Aber es ist mehr: Da ist auch der Drang des Naturwissenschaftlers, Unbekanntes zu erforschen, die Grenzen des Verstehens und des Machbaren zu überschreiten, neue Felder der Erkenntnisse zu erschließen. Rekorde sind die logische Konsequenz. Selbst kleinste Fortschritte können dabei große Wirkung entfalten.
Otto Lummer und Ernst Pringsheim bestimmten um die Jahrhundertwende in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin die spektrale Energieverteilung der Emission eines schwarzen Strahlers. Da sie auf diesem Gebiet zwei Rekorde hielten – höhere Temperaturen der schwarzen Strahler und größere Nachweisempfindlichkeit im längerwelligen Spektralbereich -, stellten sie Abweichungen vom Wien-Planck’schen Strahlungsgesetz fest, denen Planck mit seiner Strahlungsformel Rech-nung trug, die er am 7. Oktober 1900 vorstellte. Zwei Monate später schlug Planck zur Begründung der Formel seine Hypothese vom Wirkungsquantum vor – die Geburtsstunde der Quantenphysik.
Adolf Scheibe und Ulrich Adelsberger entwickelten um 1933 ebenfalls in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Quarzuhren, deren Ganggenauigkeit alle Rekorde brach. Damit deckten sie Schwankungen der astronomischen Tageslänge und der astronomischen Zeitbestimmung auf, die durch die Unregelmäßigkeiten der Erdrotation bedingt sind. Dies führte zur Ablösung der astronomischen Zeitdefinition durch die 1968 eingeführte Atomzeit, bei der die Zeit auf eine charakteristische Energiedifferenz beziehungsweise Frequenz im Grundzustand von Cäsium-Atomen zurückgeführt wird.
Tiefste Temperaturen und höchste magnetische Felder waren die Voraussetzung dafür, daß Klaus von Klitzing in der Nacht des 4. Februar 1980 im Hochfeldlabor der Max-Planck-Gesellschaft in Grenoble an Silizium-Feldeffekt-Transistoren ungewöhnliche Plateaus im Hall-Effekt feststellte. Nicht nur, daß er fünf Jahre später dafür den Physik-Nobelpreis erhielt, es entwickelte sich daraus ein neues Normal für die elektrische Widerstandseinheit, das Ohm, das heute weltweit einheitlich auf den von-Klitzing-Effekt zurückgeführt wird.
Die Suche nach den elementaren Bausteinen der Atome hat ebenso wie die Frage nach dem Ursprung und der Zukunft unseres Universums Physiker ständig zu neuen Rekordleistungen getrieben. Dazu werden immer aufwendigere Maschinen entwickelt: Teilchenbeschleuniger mit noch höheren Energien, um in gewaltigen Kollisionen die Teilchengeschosse in ihre kleinsten Bausteine zu zertrümmern, Detektoren mit noch größerer Nachweisempfindlichkeit, um auch die seltensten Teilchen nachzuweisen, Teleskope mit noch höherer Auflösung, um immer tiefer in unser Universum zu schauen.
Ein Meisterstück der Meßkunst ist Superkamiokande, das gemeinsam von japanischen und amerikanischen Wissenschaftlern betriebene Experiment in der etwa einen Kilometer tiefen Kamioka-Mine nahe der japanischen Stadt Takayama. 50000 Tonnen reinsten Wassers dienen dazu, die seltenen und schwer nachzuweisenden Neutrinos zu detektieren.
Superkamiokande hat jüngst nicht nur Astrophysiker in große Aufregung versetzt. Just zu dem Zeitpunkt, als einschneidende Kürzungen des Budgets bekannt wurden, gelang der sensationelle Nachweis, daß die Neutrinos offenbar eine Masse haben. Sollten sich diese ersten Ergebnisse bestätigen, hätte das nicht nur für die theoretischen Modelle über die Struktur der Atome und Materie, sondern auch gerade für die Astrophysik größte Bedeutung. Es sind aber auch Herausforderungen außerhalb der Grundlagenforschung, die zur Rekordjagd antreiben. Das Manhattan-Projekt der USA zur Entwicklung der Atombombe im Zweiten Weltkrieg ist zwar kein glorreiches, aber doch bezeichnendes Beispiel. Die stetig steigenden Anforderungen der Mikroelektronik an Geschwindigkeit, Speicherdichte und Verlustenergie waren seit Beginn des Silizium-Zeitalters gnadenlose Antreiber für ständig neue Rekorde, die auf dem Wege zur Nanoelektronik noch mehrmals purzeln werden.
Im Jahr 1986 knackten Georg Bednorz und Alexander Müller in den IBM-Forschungslaboratorien in Rüschlikon einen Rekord, der über viele Jahre Bestand hatte. Sie entdeckten die Hochtemperatur-Supraleiter, die bei Temperaturen von 30 Kelvin ihren elektrischen Widerstand verlieren. Weitere Entwicklungen führten zu Materialien mit Sprungtemperaturen von deutlich über 77 Kelvin, der Temperatur des flüssigen Stickstoffs, woraus sich gänzlich neue Perspektiven für die Anwendung ergaben.
Auch wenn die hochgesteckten Erwartungen (noch) nicht alle in Erfüllung gegangen sind, treiben diese Anwendungen ihrerseits wieder zu neuen Rekorden an. Bessere Materialfestigkeit, höhere Ströme, höhere Sprungtemperaturen – es gibt genug Raum für Rekorde, und viele Forscher und Entwickler befinden sich weltweit im Wettstreit. Die Forderung der Medizin nach immer besseren diagnostischen Methoden haben zum Beispiel in der Kernspintomographie zu immer neuen Bestleistungen für die Nachweisempfindlichkeit und Qualität der Bildverarbeitung geführt, von denen die Väter der Kernspinresonanz, Edward Purcell und Felix Bloch, bei ihrer Entdekkung 1945 nicht zu träumen gewagt hätten.
Es ist auch der Erfolgsdruck, der anspornt. In Zeiten knapper werdender Forschungsgelder geht es – wie auch im Sport – eben nur noch den Besten, den Rekordhaltern, so richtig gut. Nach Ende des Kalten Krieges sind zudem viele Trivialargumente entfallen, zum Beispiel daß die Überlegenheit eines ideologischen Systems durch dauernde und teuere Rekordleistungen bewiesen werden könne. Der Wettbewerb um Zuweisungen, Fördermittel, Stipendien, Sonderfonds, Sponsoren ist härter geworden. Er wird mit Mitteln wie Evaluierung, Gutachten, Einflußnahme, Lobby und nicht zuletzt auch der Werbung in der Öffentlichkeit geführt. Kritisch wird es, wenn es unter dem massiven Druck, dem sich gerade Großforschungsprojekte ausgesetzt sehen, zu spektakulären Inszenierungen kommt. Die Glaubwürdigkeit und Verantwortung der Wissenschaft dürfen nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Werbung in der Öffentlichkeit hat natürlich auch etwas mit den Medien zu tun. Den Medien – vom lateinischen “medium”: “in der Mitte”, vermittelnd – kommt eine besondere Verpflichtung und Verantwortung zu, an erster Stelle ausgewogene und sachlich kompetente, dennoch verständliche und unterhaltsame Informationen zu liefern. “Rekorde der Physik” – vielleicht als ständige Kolumne in bild der wissenschaft – könnte dazu beitragen.
Bezüglich der Forschungsförderung befinden wir uns in der Bundesrepublik Deutschland, zumindest was die Strukturen betrifft, in einer guten Situation. Bund und Länder stehen gemeinsam in der Verantwortung, und mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben wir eine Institution für die Vergabe von Forschungsmitteln, um die uns viele andere Länder beneiden. Gleichwohl bleibt festzustellen, daß die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in Deutschland im Vergleich zu Japan und USA, aber auch den anderen großen europäischen Staaten zurückgegangen sind.
Die objektive und zuverlässige Ermittlung von Rekorden erfordert in der Forschung wie im Sport präzises Messen. So wie im Sport Stoppuhr und Maßband durch elektronische Zeitmessung und Laser-Meßverfahren abgelöst worden sind, steigen die Anforderungen aus Wissenschaft und Praxis an die Meßtechnik ständig.
Hier leistet unser Institut, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig und Berlin, einen entscheidenden Beitrag. Die genaueste Uhr, die empfindlichste Waage, der präziseste Winkelmesser, die rundeste Kugel und vieles mehr sind Rekorde, die andere Rekorde erst möglich und nachweisbar machen. Nur das, was man messen kann, kann man auch wirklich erklären.
Auch das nächste Jahrtausend wird Rekorde der Physik brauchen. Obwohl die klassischen Grenzen der Naturwissenschaft zwischen Physik, Chemie, Biologie bis hin zur Medizin immer stärker verschwimmen, werden die Physik und die physikalische Meßtechnik eine zentrale Rolle in Wissenschaft und Technik behalten. Die großen zukünftigen Probleme, zum Beispiel in Medizin, Energieversorgung und Umweltschutz, werden nur gelöst, wenn es genügend “Verrückte” gibt, die nach Rekorden in der Physik und den anderen Disziplinen Jagd machen.
Um so besorgniserregender ist die Entwicklung, daß immer weniger junge Menschen bereit sind, Naturwissenschaften und Technik zu ihrem beruflichen Lebensinhalt zu machen. Dies muß alle, die Verantwortung für unsere Zukunft tragen, alarmieren. Hat der naturwissenschaftliche Unterricht an unseren Gymnasien wirklich die Bedeutung, die er angesichts der großen Herausforderungen der Zukunft verdient? Sind Inhalte und Praxis des Studiums auf die kommenden Anforderungen ausgerichtet? Haben Forschung und Technik in der Gesellschaft und nicht zuletzt auch in der Politik den richtigen Stellenwert?
Zur Gestaltung der Zukunft braucht unser Land auch im nächsten Jahrtausend Wissenschaftler und Techniker, die bereit sind, mit auf Rekordjagd zu gehen. Das muß und kann nicht immer gleich mit dem Nobelpreis belohnt werden. Auch die weniger spektakulären Rekorde, wie sie tagtäglich in den Laboratorien weltweit aufgestellt werden, leisten ihren Beitrag.
Ernst O. Göbel