DAS INTERNET HAT unsere Lehr- und Lernkultur gründlich verändert. Lehrstoff, Prüfungsmaterial und sogar ganze Übungskurse online aus dem Netz zu laden, gehört heute zum Repertoire der Hochschulen. Wird bald auch die klassische Vorlesung dem „Teleteaching” Platz machen – Vorlesungen und Seminaren via Internet? Dies jedenfalls prophezeite 1996 Prof. Hans-Peter Großmann, Leiter des Kommunikations- und Informationszentrums an der Universität Ulm (bild der wissenschaft 9/1996, „Frischzellenkur durch das Internet”).
Seit Jahren ist Großmann überzeugt, daß das „eLearning” – die Ausbildung über elektronische Kommunikationsmedien – sich rasant verbreiten werde. Auf Universitäten gemünzt: interaktives Teleteaching in Echtzeit, wobei Studenten an verschiedenen Orten einer Vorlesung folgen und auch selbst Beiträge abgeben können. „ In Zukunft wird keine Hochschule ohne eLearning und Teleteaching auskommen”, sagt der Informatiker. „Trotzdem kann man die Präsenzlehre beim Studium meiner Meinung nach nicht vollständig abschaffen. Die Kombination aus beidem, Präsenzlehre und Teleteaching, ist das Richtige – wir nennen das Blended Learning.”
Fast alle europäischen und renommierten nordamerikanischen Hochschulen betreiben Projekte zur Anwendung neuer Medien in Forschung und Lehre. Zweimal ist der Ulmer kreuz und quer durch die USA gereist und hat Universitäten besucht, die Teleteaching-Projekte betreiben. Zwar hat sich in den Vereinigten Staaten das netzgestützte Lernen, das Nacharbeiten von Lernstoff via Web, rasch durchgesetzt – doch Vorlesungen, die die Studenten in Echtzeit online verfolgen könnten, sind noch nicht weit verbreitet: Den technischen Herausforderungen für den kontinuierlichen Datenfluss (Streaming) – Bandbreite der Leitungen, Übertragungsprotokolle, Synchronisation – sind nur einzelne, sehr gut ausgestattete Universitäten gewachsen. „Auch interaktive Studiengänge, an denen mehrere Universitäten beteiligt sind, gibt es kaum in den USA”, sagt Großmann.
Umso beeindruckter ist er von den Vorreitern – etwa der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, die einen Online-Studiengang in Informationstechnologie für Studenten des Athens Information Technology Centre in Griechenland anbietet. Großmann: „Professoren und Studenten kennen sich nur über den Bildschirm. Nur einmal während des viersemestrigen Studiums reisen die Studenten tatsächlich nach Pittsburgh.”
Die deutschen Hochschulen möchten nicht abseits stehen. So haben Bund und Länder seit Mitte der neunziger Jahre eine Reihe von Projekten finanziert – Schlagwort: „virtuelle Hochschule” –, bei denen mit Methoden und Technologien experimentiert wurde. Neue, leistungsstarke Übertragungsnetze wurden geschaffen. Der heutige Stand der Dinge reduziert sich allerdings auf gute Technik mit viel zu wenig Inhalt.
Zwar hat fast jedes Bundesland seine virtuelle Hochschule. Doch was die anbieten, ist meist enttäuschend wenig – auch in Sachen Vernetzung. „Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis der erste Studiengang kommt, der sich auf zwei Universitäten erstreckt”, hatte Großmann 1996 prognostiziert. Doch auch nach acht Jahren ist diese Vorhersage unerfüllt geblieben. „Die technischen Voraussetzungen haben wir, aber wir scheitern noch an bürokratischen Hürden”, muss der Ulmer Informatiker einräumen. Unbewältigte Probleme sind beispielsweise die unterschiedlichen Prüfungsordnungen sowie die mangelnde gegenseitige Anerkennung von Prüfungsleistungen.
Immerhin wurde 2003 die erste Online-Doktorprüfung in Deutschland abgenommen: Da der Zweitprüfer, ein Professor aus dem kalifornischen Stanford, aus Terminnot nicht anreisen konnte, wurde er per Internet zur Prüfung geholt – auf einen Bildschirm an der Universität Hannover. Karin Hollricher ■