Die tägliche Drehung der Erde ist zahlreichen Zyklen unterworfen. So kreist die Erdachse selbst alle 23000 Jahre um eine mittlere Achse und nickt dabei hin und her wie ein angeschlagener Kreisel. Jetzt haben amerikanische Wissenschaftler herausgefunden, daß die Erdachse nicht einmal fest im Planeten verankert ist: Wie William Sager von der Texas A & M University und Anthony Koppers von der Scripps Institution im kalifornischen La Jolla berichten, neigte sich vor 84 Millionen Jahren die Erde um 16 bis 21 Grad zur Seite, während die Rotationsachse weiterhin auf die gleichen Sterne zeigte. Dadurch müssen sich die Klimazonen der Erde ruckartig verschoben haben. Das heutige Washington wanderte aus gemäßigten Breiten in die Tropen, und der Nordpol verlagerte sich in die Gegend von Sibirien. In den folgenden 40 Millionen Jahren schwang die Erdkugel offenbar wieder langsam in ihre heutige Position zurück. Die beiden Forscher kamen der Polwanderung mit Hilfe von magnetisierter Lava von Unterwasser-Vulkanen auf die Spur. Aus solcher Lava können Geowissenschaftler auf die Lage des magnetischen Pols zu der Zeit schließen, als sich das Gestein abkühlte: Das damals herrschende Magnetfeld wurde in den Steinen eingefroren. Gewöhnlich nutzen sie diese Daten, um die früheren Kontinente zu rekonstruieren. Dabei gehen sie davon aus, daß der magnetische Pol und der nahe gelegene geographische Pol fest liegen, während sich die Kontinente rundherum verschieben. Sager und Koppers stießen jedoch auf ein merkwürdiges Phänomen: Vor 84 Millionen Jahren machte der magnetische Nordpol innerhalb von wenigen Millionen Jahren einen Sprung um 16 bis 21 Grad; er bewegte sich mindestens zehnmal schneller, als die Kontinente über die Erde gleiten können. Der Pol muß damals plötzlich über den Globus gewandert sein. Die Ursache dafür waren vermutlich Massenverlagerungen im Erdmantel. Dort bewegt sich das feste Gestein langsam in einem Kreislauf zwischen dem unteren Erdmantel und der Erdoberfläche: Kaltes, schweres Gestein von der Erdoberfläche sinkt nach unten, während leichtes, heißes Gestein nach oben steigt. Möglicherweise bahnte sich vor 84 Millionen Jahren eine gewaltige Menge aufgestauter kalter Kruste den Weg nach unten – oder eine große Blase heißen Gesteins quoll plötzlich auf. Gleich an drei Stellen der Erdoberfläche kam es damals zu gigantischen Vulkanausbrüchen, bei denen riesige Flutbasalte entstanden; die Kontinente änderten ihre Verschiebungsrichtung, und das irdische Magnetfeld kehrte sich erstmals seit 35 Millionen Jahren wieder um. All das spricht dafür, daß seinerzeit im Erdmantel Ungewöhnliches passiert ist. William Sager spekuliert, daß der Wärmemotor der Erde in der Kreidezeit (140 bis 65 Millionen Jahre vor heute) möglicherweise anders gearbeitet hat als heute: „In der Kreide gab es keine Eiskappen, das Klima war wärmer, der Meeresspiegel lag 300 Meter höher als heute, Vulkanismus war viel weiter verbreitet, und die tektonischen Platten bewegten sich schneller.” Ein französischer Kollege habe sogar Hinweise darauf, daß sich die Pole während der Kreidezeit um insgesamt 35 Grad verschoben. Seit dem Ende dieser Periode scheinen sie im wesentlichen an ihrem heutigen Platz geblieben zu sein. Physikalisch läßt sich die merkwürdige Unruhe der Erde so interpretieren: Wenn sich innerhalb des Planeten Massen verlagern, versucht die kreiselnde Erde automatisch, die schweren Teile möglichst weit weg von der Rotationsachse, also am Äquator zu positionieren. Sager erklärt das mit einem Beispiel: „ Wenn ein riesiger Käfer vom Äquator zum Pol krabbeln will, wird die Kugel so kippen, daß der Käfer immer in der Nähe des Äquators bleibt. Er kann den Pol nie erreichen, wenn er sich zu langsam bewegt.” Bei der Erde kommt ein derartiger Massenausgleich nicht beliebig schnell zustande. Theoretisch sollte unser Planet sich in einer Million Jahre um höchstens fünf Grad neigen können. „Das liegt sehr nah an unserer Schätzung”, berichtet Sager. „Für einen Geologen ist das eine sehr schnelle Bewegung. Den Dinosauriern, die damals lebten, dürfte davon jedoch nicht schwindelig geworden sein.”
Ute Kehse