Die Farbe der Sonne Die Revolution der Quantenmechanik begann bescheiden. Ihr Begründer war kein jugendlicher Heißsporn, eher ein Revolutionär wider Willen. Im Jahr 1900 war Max Planck 42 Jahre alt und lehrte theoretische Physik an der Universität Berlin, zur damaligen Zeit ein Exotenfach. Planck beschäftigte sich mit der Frage, wie bei einem heißen Körper die Farben entstehen. Erhitzt man ein Stück Eisen, so glüht es mit steigender Temperatur erst rot, dann weiß und schließlich blau. Planck war sicher: Es mußte für alle Körper, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, ein Naturgesetz geben, das dieses Verhalten beschreibt. Planck stellte sich vor, daß die Teilchen in den Körpern schwingen – ähnlich wie Spiralfedern – und dabei Strahlung aufnehmen und abgeben. Die Schwingungsfrequenz sollte dabei dem Energieinhalt der Teilchen entsprechen. Physikalisches Überlegen einerseits und mathematisches Probieren andererseits führten ihn schließlich auf eine Formel, die die Meßdaten erstaunlich gut wiedergab. Alles fügte sich wunderbar zusammen – bis auf eine Kleinigkeit: Planck mußte in die Formel eine Konstante einfügen, deren Bedeutung ihm völlig unklar war. Dieses Wirkungsquantum (h=6,626 · 10-34 Joule · Sekunde) deutete an, daß ein Strahlungsteilchen nicht beliebige Energiemengen aufnehmen kann, sondern nur einzelne „Pakete”, sogenannte Quanten. „Das war eine rein formale Annahme, und ich dachte mir eigentlich nicht viel dabei, sondern nur eben, daß ich unter allen Umständen, koste es, was es wolle, ein positives Resultat herbeiführen wollte”, meinte Planck später einmal. „Es war ein Akt der Verzweiflung.” Als Planck am 14. Dezember 1900 im Physikalischen Institut am Berliner Reichstagsufer seinen Vortrag beendet hatte, muß das erlesene Publikum ziemlich ratlos dreingeschaut haben. Was sollte man davon halten? Die Natur machte doch keine Sprünge. Planck selber versuchte noch mehrere Jahre lang, sein Wirkungsquantum in die klassische Physik einzubauen. Vergebens. Die wahre Natur dieser winzigen Zahl blieb ihm lange Zeit unklar. Ihre fundamentale Bedeutung wurde erst in den zwanziger Jahren von einer Schar junger Wilder entdeckt. Dennoch gilt der Tag seines Vortrags heute als Beginn dieser physikalischen Revolution. Das Plancksche Wirkungsquantum verbindet die Energie eines Körpers oder Gases mit der Wellenlänge des abgestrahlten Lichts: Je höher die Energie oder Temperatur, desto kürzer die Wellenlänge. Das erklärt, warum ein Stück Eisen mit steigender Temperatur erst rot (große Wellenlänge) und schließlich blau (kurze Wellenlänge) leuchtet. Die Quantentheorie erklärt nicht, warum die Planck-Konstante den Wert hat, wie er heute im Labor gemessen wird. Er muß als naturgegeben hingenommen werden. Was aber, wenn die Planck-Konstante größer oder kleiner wäre? Die Auswirkungen auf die Natur wären gewaltig. Angenommen, die Konstante wäre halb oder doppelt so groß. Dann würde die Sonne, vorausgesetzt sie hätte nach wie vor eine Oberflächentemperatur von 5800 Grad, nicht mehr gelb erscheinen. Vielmehr würde sie dann den größten Teil der Strahlung bei kürzeren beziehungsweise größeren Wellenlängen abgeben als heute. Sie würde violett oder infrarot leuchten. Im zweiten Fall könnten wir unser Tagesgestirn gar nicht sehen, zumindest bei der jetzigen Beschaffenheit unserer Augen. Wahrscheinlich aber wäre die Evolution der Lebewesen anders verlaufen: Pflanzen könnten heute die Photosynthese möglicherweise nicht wie gewohnt mit rotem Licht betreiben und wären deshalb auch nicht grün. Die Augen der Lebewesen hätten sich anders entwickelt und wären in der Lage, UV- oder Infrarotstrahlung zu sehen. Kristallene Sphären Planck hatte zwar die zentrale Größe der Quantenmechanik entdeckt, aber der Zusammenhang mit der atomaren Welt wurde erst langsam klar. Ernest Rutherford hatte Helium-Atomkerne auf hauchdünne Goldfolien geschossen und dabei festgestellt, daß die meisten von ihnen ungehindert hindurchflogen. Nur wenige wurden abgelenkt, vereinzelt prallten sie auch zurück wie Ping-Pong-Bälle. Rutherford dachte lange über dieses Ergebnis nach, bis er die Erklärung hatte: Seinem Assistenten Hans Geiger rief er voller Begeisterung zu: „Ich weiß jetzt, wie ein Atom aussieht!” Er hielt es für weitgehend leer. Im Zentrum sollte sich ein kleiner Kern befinden, den in großen Abständen die Elektronen umgaben. Dieses Modell aus dem Jahr 1910 erklärte zwar Rutherfords Versuch, es warf aber ein entscheidendes Problem auf: Nach den bekannten Gesetzen der Elektrodynamik gibt ein elektrisch geladenes Teilchen auf einer Kreisbahn Strahlung ab. Dadurch verliert es Energie und nähert sich auf einer tödlichen Spiralbahn dem Kern. Schnell war klar: Wenn Rutherford Recht hätte, müßten nach den Gesetzen der klassischen Physik alle Elektronen in Bruchteilen einer Sekunde in ihre Kerne stürzen. Es gäbe gar keine stabilen Atome. Drei Jahre später löste einer von Rutherfords Schülern das Rätsel auf radikale Weise. Niels Bohr behauptete, die Elektronen würden nicht auf beliebigen Bahnen um den Kern herumlaufen, wie Planeten um die Sonne. Vielmehr bekämen sie Bahnen zugewiesen, die sie nur unter bestimmten Umständen verlassen können: Wenn sie ein Lichtteilchen aufnehmen und dabei Energie gewinnen, hüpfen sie auf eine weiter vom Kern entfernte Bahn, und wenn sie eines abgeben und Energie verlieren, springen sie wieder zurück. So lange das Elektron auf seiner Bahn bleibt, befindet es sich in einem stationären, unveränderlichen Zustand. Bohrs Theorie war grotesk. Lange mußte er mit Rutherford über die Veröffentlichung streiten: „Mir scheint, Sie nehmen an, daß das Elektron von vornherein weiß, wo es stoppen wird”, konterte Bohrs Lehrer provozierend. Tatsächlich sah es so aus, als würde Bohr die aus der Astronomie mühsam entfernten kristallenen Sphären in der Atomphysik wieder einführen. Dennoch ließ sich nicht leugnen, daß seine Theorie das Spektrum von leuchtendem Wasserstoffgas erklären konnte. Als Einstein von Bohrs Arbeit hörte, soll er gesagt haben: „Das ist eine der größten Entdeckungen.” Doch es sollte erst der Anfang gewesen sein. Geborgte Energie Schon länger war bekannt, daß Elektronen in manchen Experimenten nicht als Kügelchen auftreten, sondern eindeutig die Eigenschaften von Wellen aufweisen. Der französische Prinz Louis Victor de Broglie zog daraus 1924 den Schluß, daß Elektronen ein Doppelleben führen. Er schlug vor, man solle sich das Elektron wie eine stehende Welle vorstellen, die den Atomkern umgibt. Diese Welle müsse so beschaffen sein, daß der Bahnumfang stets einem ganzzahligen Vielfachen der Wellenlänge entspricht. Diese Idee griff der Österreicher Erwin Schrödinger auf und arbeitete sie mathematisch aus. 1926 gelang ihm der Durchbruch: In der nach ihm benannten Schrödinger-Gleichung ist das Elektron eine den Atomkern umgebende, räumlich ausgedehnte Welle, die ähnlich schwingt wie ein mit Wasser gefüllter Ballon, den man anstößt. Nur bestimmte Schwingungsformen sind möglich, wobei jede Form einer bestimmten Energie des Elektrons entspricht. Beim Übergang von einer Form zur anderen nimmt das Elektron ein Lichtquant auf oder gibt eines ab. Das erklärte, warum ein Elektron nicht in den Atomkern hineinstürzt. Es erklärte freilich nicht, daß Elektronen hin und wieder auch als Teilchen auftreten. Tatsächlich versteckt sich das Teilchen gewissermaßen in der Welle. Deren Intensität gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit es sich an einem bestimmten Ort aufhält. Diese Theorie widerspricht dem klassischen physikalischen Gesetz, wonach ein Teilchen entweder an einem bestimmten Ort ist oder nicht. Genau das unterscheidet die Quantenmechanik von der klassischen Physik: Im Reich der Atome sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Verschwommene Bahnen Auf den wohl tiefgreifendsten Aspekt dieser atomaren Verschwommenheit stieß 1927 Werner Heisenberg. Mit 25 Jahren war er erst kurz zuvor an der Universität Leipzig Deutschlands jüngster Ordinarius geworden. Er hatte eine zu Schrödinger konkurrierende Theorie entwickelt, um die Atome und die Quantensprünge der Elektronen zu beschreiben. Dabei stieß er auf den merkwürdigen Umstand, daß sich Ort und Impuls eines Elektrons nicht gleichzeitig scharf messen lassen. Bestimmt man den Ort genau, wird die Impulsmessung ungenau – und umgekehrt. Das Plancksche Wirkungsquantum gibt die Größe dieser Unsicherheit an. Die Heisenbergsche Unschärferelation sagt nichts über die Geschicklichkeit von Experimentalphysikern aus. Sie beschreibt eine grundsätzliche Eigenart der Mikrowelt und hat ihre Ursache darin, daß Teilchen auch wie „verschmierte” Wellen auftreten. „ Wenn es je ein Experiment gäbe, das Impuls und Ort gleichzeitig und genau zu bestimmen gestattet, müßte die Quantenmechanik notwendig falsch sein”, behauptete Heisenberg. Bis heute ist niemandem ein solches Experiment gelungen. Diese Unbestimmtheit hat enorme Auswirkungen auf die Natur. Sie gilt auch für das Paar Zeit und Energie. Je kürzer der Vorgang beim Messen der Energie eines Elektrons ist, desto ungenauer wird der Wert. Das hat eine wesentliche Konsequenz: In der klassischen Physik kann sich kein Teilchen aus dem Nichts Energie holen. In der Quantenmechanik ist es zumindest möglich, daß sich ein Elektron Energie ausborgt und innerhalb des von der Unbestimmtheitsrelation gesteckten zeitlichen Rahmens zurückgibt: Je kürzer der betrachtete Zeitraum ist, desto größer ist der Energiekredit. Mit dieser Zusatzenergie ist es Teilchen möglich, Energiehürden zu überspringen, die eigentlich für sie zu hoch sind – zum Beispiel im Atomkern. Im Innern des Kerns werden die positiv geladenen Protonen einerseits durch die Kernkraft aneinander gebunden, andererseits stoßen sie sich wegen der elektrischen Kraft und ihrer gleichnamigen Ladung ab. Im allgemeinen überwiegt die Kernkraft. Man kann sich vorstellen, daß die Protonen in einem Topf umherkullern, wobei ihre Energie zu gering ist, um aus ihm herauszurollen. Nun können sich im Kern zufällig zwei Protonen und zwei Neutronen zu einem besonders stabilen Heliumkern zusammenlagern, der aus dem Topf entweichen kann. Dieses Teilchen besitzt außerhalb des Kerns eine Energie von vier Millionen Elektronvolt. Die Energiehürde im Kern ist aber etwa 30 Millionen Elektronvolt hoch. Den fehlenden Betrag hat sich das Teilchen kurzfristig geborgt. Physiker sprechen vom Tunneleffekt, weil es so aussieht, als hätte sich das Teilchen einen Tunnel durch die Energiebarriere gegraben. Das passiert auch beim radioaktiven Zerfall, den es ohne die Heisenbergsche Unschärfe gar nicht gäbe. Der umgekehrte Vorgang, das Verschmelzen von zwei Atomkernen, ist ebenfalls nur durch den Tunneleffekt möglich. Im Innern der Sonne beispielsweise ist die Temperatur und damit die Energie der Wasserstoff-Kerne viel zu niedrig, als daß diese positiv geladenen Teilchen die elektrische Abstoßungskraft überwinden und sich vereinigen könnten. Das ermöglicht erst der Tunneleffekt. Ohne quantenmechanische Unschärfe gäbe es also kein Feuer im Innern der Sonne. Mittlerweile wird der Tunneleffekt in der Technik genutzt, zum Beispiel beim Rastertunnelmikroskop, mit dem sich einzelne Atome untersuchen lassen. Dabei führt man eine extrem feine Metallspitze in möglichst geringem Abstand über eine Oberfläche. Normalerweise bildet der Raum zwischen Spitze und Oberfläche eine für Elektronen unüberwindliche Hürde. Der Tunneleffekt ermöglicht jedoch immer wieder Teilchen den scheinbar unmöglichen Sprung. Je näher die Nadel an der Oberfläche ist, desto größer ist der Tunnelstrom. Aus dessen Stärke läßt sich die Oberflächenform bis zu atomarer Auflösung ermitteln. Technisch angewandt wird der Tunneleffekt außerdem bei sogenannten Josephson-Kontakten, bei denen zwei Supraleiter durch einen Isolator getrennt sind. Dennoch gelingt es Elektronen, die in Supraleitern paarweise wandern, dieses Hindernis zu durchtunneln. Dieser Vorgang läßt sich mit Magnetfeldern beeinflussen. Das ermöglicht den Bau von SQUIDs (Superconducting Quantum Interference Devices), mit denen sich selbst schwächste Magnetfelder – beispielsweise von Gehirnströmen – messen lassen. Platzkarten im Atom Schon zwei Jahre vor Heisenbergs bahnbrechender Entdeckung war eine weitere verblüffende Eigenart der Natur deutlich geworden. Bohr hatte sich gefragt: Wenn sich ein Atom normalerweise im niedrigsten Energiezustand befindet, müßten dann in diesem Zustand nicht auch alle Elektronen das niedrigste Energieniveau einnehmen? Das ist offenbar nicht so, denn wären alle Elektronen in den Atomen aller Elemente im selben Zustand, hätten auch alle Atome nahezu dasselbe Aussehen. Folglich gäbe es nicht die Fülle von chemischen Verbindungen und auch kein Leben. Der österreichische Physiker Wolfgang Pauli kam Anfang 1925 auf die Idee, daß die Natur ein Ausschließungsprinzip eingerichtet haben muß. Es sollte vorschreiben, daß alle Elektronen in einem Atom unterschiedliche Energiezustände einnehmen. Auf das Bohrsche Atommodell übertragen bedeutet dies, daß die Schalen mit zunehmender Anzahl an Elektronen von innen nach außen aufgefüllt wurden. Später wandte Pauli sein Prinzip auf das abstraktere quantenmechanische Atommodell von Schrödinger und Heisenberg an. Mit Paulis Erkenntnis ließ sich plötzlich auch die Vielfalt der Elemente erklären. Denn durch das Pauli-Verbot besaßen die Atome in der äußersten Schale unterschiedlich viele Elektronen, die für die chemischen Eigenschaften eines Elements verantwortlich sind. Weitreichende Konsequenzen hat das Pauli-Prinzip in der Festkörperphysik. In einem Kristall beispielsweise sind sich die Atome so nahe, daß sich ihre Elektronen in die Quere kommen. Dadurch gilt für alle Elektronen ein kollektives Ausschließungsprinzip. Das heißt, keine zwei Elektronen in dem Körper dürfen sich in demselben physikalischen Zustand befinden. Dies hat zur Folge, daß sich die Energieniveaus der Elektronen gegeneinander verschieben. Sie liegen so dicht beieinander, daß sie ein breites Energieband bilden. Genaugenommen entstehen zwei Bänder. In dem Band niedriger Energie – dem sogenannten Valenzband – sind die Elektronen gefangen, während sie sich in dem Band höherer Energie im Körper bewegen und elektrischen Strom leiten können. Der Abstand zwischen den beiden Bändern entscheidet dar-über, wie leicht die Elektronen vom Valenzband ins höhere Leitungsband hinüberspringen können. Das ist die entscheidende Eigenschaft, durch die sich elektrische Leiter (Bänder überlappen sich), Isolatoren (großer Abstand) und Halbleiter (kleiner Abstand) unterscheiden. Dieses von der Natur verordnete Verbot der Gleichmacherei von Elektronen läßt sich nicht tiefgehender erklären. Es muß als gegeben hingenommen werden. Bohr war von diesem „vollständigen Wahnsinn” begeistert. Auch Pauli wußte nicht mehr zu sagen als: „Wir dürfen nicht die Atome in die Fesseln unserer Vorurteile schlagen wollen.” Das Ausschließungsverbot ist der Schlüssel zum Verständnis der Vielfalt in der Natur, und es ist Ausgangspunkt für eine atemberaubende technische Entwicklung, die mit dem Bau des ersten Transistors begann und heute bei der Mikroelektronik einen Höhepunkt erreicht hat.
Thomas Bührke