Der Rücken ist geritzt, gelöchert und gekerbt. Wie ein pokkenübersäter gestrandeter Wal liegt er in der grünen Berglandschaft am Ostabhang der Anden. Vor 2000 Jahren schlugen hier gläubige Menschen Tiere, Ornamente, Kanäle, Becken, Stufen, Nischen und Treppen in den rötlichen Sandstein und machten den Bergrücken zur größten Steinskulptur ganz Amerikas – 300 mal 50 Meter. Dem Gesamtkunstwerk, als “El Fuerte de Samaipata” bekannt, wurden schon viele Funktionen zugeschrieben: Goldwaschanlage, Startrampe für Außerirdische, Festung, Observatorium, Schatzkammer und Zuflucht des letzten Inka. Die Unesco hat die gestaltete Landschaft im letzten Dezember in den Rang des Weltkulturerbes erhoben. Für Dr. Albert Meyers ist der Berg vor allem eine wissenschaftliche Herausforderung. Denn nach den ersten Grabungen des Bonner Archäologen zeichnet sich hier ein geschichtssatter Ort ab, der die Frage neu stellt: Wie haben sich die Hochkulturen Südamerikas entwickelt? Oberhalb von Samaipata ragen die Nebelberge der Anden, östlich dehnt sich das amazonische Tiefland – der Kultfelsen steht an der Schnittstelle. Liegen die Wurzeln der andinen Hochkulturen im Tiefland? Albert Meyers, derzeit archäologischer Berater des bolivianischen Vizeministeriums für Kultur: “Wir glauben, daß die frühen Bauern aus dem Amazonasgebiet hier heraufgekommen sind ins Hochland. Die ersten Gravuren stammen sicher von ihnen.” Offenbar wurde Samaipata schon früh als Kultstätte genutzt, er scheint ein Ort der Energie und Anziehungskraft – Kompaßnadeln in seiner Nähe jedenfalls beginnen zu tanzen. Für Meyers ist der Berg “einer der wichtigsten Heiligen Orte des ganzen Andengebietes”.
Wie bei den Nazca-Scharrzeichnungen ist das Gesamtbild der skulptierten Ornamente und Tiere auch auf dem Samaipata-Rücken erst mit dem Blick etwa aus dem Helikopter zu erkennen, beim Fußmarsch im Gelände erschließt es sich kaum als planvolles Ganzes. Die vorkolumbianischen Steinmetze müssen also ein festes Konzept vor ihrem inneren Auge gehabt haben, als sie die riesige Fläche bearbeiteten. Diese Fähigkeit, Tiere oder Ornamente in Dimensionen herzustellen, die für Künstler wie Betrachter nur abstrakt zu fassen sind, kennzeichnet laut Meyers die Andenkulturen und prädestiniert sie zugleich für waghalsige Interpretationen und Spinnereien. Meyers aber macht handfeste Archäologie: Schon der erste Schnitt den Berghang hinab erbrachte im Jahr 1992 Siedlungsspuren von Spaniern, Inka und noch früheren Bewohnern. Vergleiche mit Funden aus benachbarten Tälern lassen sogar darauf schließen, daß Samaipata (“Die Stufen des Ausruhens in der Höhe”) bereits im 1. Jahrtausend v. Chr. genutzt wurde. Nach fünf Grabungskampagnen kann Meyers nun drei präkolumbianische Phasen unterscheiden: An der Südseite sind Bekken, Stufen und Sitze in die Bergflanke gehauen, “die ja irgend etwas zu bedeuten hatten”. Da es zudem eine Plattform und eine sehr gute Akustik gibt, spekulieren die Forscher auf einen Versammlungsort, an dem sich “die primitiven Völker getroffen haben, zu Riten, die wir nicht kennen”. Das wäre, so Meyers, “eine Phase, die bis in das 1. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen kann”. Die Becken, schlangenförmigen Kanäle und geometrischen Figuren wurden sicher für den Kult genutzt, etwa für das rituelle Ausschütten von Maisbier oder auch von Blut. Meyers nennt diese Skulptierung eine “Reverenz an die Pacamama, die Erdmutter der frühen Kulturen”. Diese “Formativphase der Inka” (1000 bis 1300 n. Chr) ist für den Bonner Archäologen eine Nachwirkung der Tiahuanaco-Kultur aus den Anden (siehe Beitrag “Vergessene Welt”). Allerdings, das muß Meyers zugeben, “existieren dazu nicht viele eindeutige Belege”. Einen radikalen Bruch brachte die nachfolgende Nutzung durch die Inka: Die meißelten ab 1300 n. Chr. eine Galerie von Nischen in die Felswände, überbauten ältere Ritualstrukturen und machten sie so funktionslos. Sie hatten einen eigenen Kult: “Es ist eine Erobererkultur mit einem transportablen rituellen Konzept”, erläutert Meyers: “Die brachten ihre Ahnenmumien und Götterbilder mit.” Beide wurden in den goldausgekleideten Nischen aufgestellt.
Unterhalb der Bergflanke bauten die Inka eine kleine befestigte Stadt mit zentraler Plaza (150 mal 150 Meter), einer riesigen Mehrzweckhalle (68 mal 16 Meter unter einem tragenden Dach) und einem Verwaltungsgebäude. In der Umgebung fanden die Ausgräber Reste großer Wohnhäuser. Meyers sieht in dieser Siedlung “die Hauptstadt der östlichsten Provinz des Inka-Reichs”. Damit ist archäologisch belegt, daß die Inka viel weiter ins Tiefland des heutigen Bolivien vorgestoßen sind, als die Wissenschaft bislang konzidieren wollte. Und sie sind dort sehr früh präsent gewesen: Meyers hat C14-datierte Hauspfosten von Inka-Häusern, die um 1260 n. Chr. gebaut wurden, “also 200 Jahre eher, als man aufgrund der historischen Quellen für die Inka-Ausdehnung hätte annehmen dürfen”, freut sich der deutsche Archäologe in Bolivien. Denn für ihn ist die Forschermeinung, daß die Inka den Süden erst 70 Jahre vor ihrem Sturz erobert hätten, eine “total irrige Theorie”. Meyers: “Für mich zählt Bolivien zur Kernzone des Inka-Reichs.” Überhaupt ist Meyers mit seinen Kollegen unzufrieden: Sie zeichneten ein falsches, zumindest ungenaues Bild von der Geschichte Südamerikas. Über das Amazonas-Tiefland zum Beispiel – und seinen möglichen Einfluß auf die Kulturen der Anden – wisse man fast nichts. Archäologische Forschung findet dort so gut wie nicht statt – mit einer Ausnahme: Die archäologische Grundlagenforschung von Heiko Prümers (siehe Beitrag “Die Tiefland-Barbaren”). Gleichzeitig jedoch, so erbost sich Meyers weiter, arbeiten Archäologen und Historiker mit Zeittafeln, die nach fragwürdigen Inka- und Spanier-Berichten aufgestellt worden sind. Danach hätten zum Beispiel der Inka Pachacuti und sein Sohn Yupanqui in weniger als zwei Jahrzehnten ein Reich mit 4000 Kilometer Nord-Süd-Ausdehnung zusammengeschweißt. Es gibt aber, so Meyers, nur ein einziges gesichertes historisches Datum in der Inka-Geschichte: Die Gefangennahme des letzten Inka Atahualpa 1532. Alles andere sei “eine heilige Kuh der Andinistik, die bisher nicht geschlachtet wurde”.
Michael Zick