Eine totale Sonnenfinsternis ist nicht nur einfach eine spezielle geometrische Konstellation von Sonne, Mond und Erde. Der Dichter Adalbert Stifter nannte es ein “herzzermalmendes” Erlebnis – in seiner Beschreibung der Finsternis vom 8. Juli 1842 in Wien:
“Die Spannung stieg aufs höchste – einen letzten Blick tat ich noch in das Sternrohr: so schmal, wie mit der Schneide eines Federmessers in das Dunkel geritzt, stand nur mehr die glühende Sonnensichel da, jeden Augenblick zum Erlöschen. Und wie der letzte Funke eines erlöschenden Dochtes, schmolz eben auch der letzte Sonnenfunken weg. Deckend stand nun Scheibe auf Scheibe – und dieser Moment war es eigentlich, der wahrhaft herzzermalmend wirkte. Totenstille, es war der Moment, da Gott redete, und die Menschen horchten.” Am 11. August dieses Jahres 1999 werden auch Skeptiker zugeben müssen, daß Stifter nicht übertrieben hat.
Wir wissen auf die Sekunde genau im voraus, was sich am Mittag dieses Tages am Himmel abspielt: wann der unsichtbare Neumond die blendend helle Sonnenscheibe an der rechten Seite berührt, wann der letzte Sonnenstrahl hinter dem Mond erlischt, wann der erste wieder aufflammt und wann der Mond die Sonne wieder völlig freigibt. Diese vier Momente, auch Kontakte genannt, bilden den Fahrplan für das fast dreistündige Schauspiel. Der Mittelteil, die völlige Abdeckung der Sonne durch den Mond, die totale Verfinsterung, ist der Anlaß, weshalb Tausende halbe Weltreisen unternehmen: die Schwarze Sonne am Himmel mit dem Glorienschein der Korona.
In Stuttgart, das exakt auf der Mittellinie des Finsternisstreifens liegt, gelten folgende Zeiten für die vier Kontakte: 11 Uhr, 13 Minuten, 9 Sekunden 12 Uhr, 32 Minuten, 55 Sekunden 12 Uhr, 35 Minuten, 12 Sekunden 13 Uhr, 56 Minuten, 54 Sekunden
Für andere Städte weichen die Werte bis zu wenigen Minuten ab. Um Deutschland zu durchqueren, braucht der Schatten insgesamt kaum zehn Minuten. Die erste partielle Phase der Finsternis beginnt mit dem 1. Kontakt. Im Laufe von 1 Stunde und 20 Minuten wird die Sonne immer kleiner, bis nur noch eine schmale Sichel an der linken Seite übrig ist. Während dieser Zeit gerät man leicht in Versuchung, das Herannahen des großen Augenblicks mit auf die Sonne gerichtetem Blick zu beobachten – ein gefährliches Unterfangen, denn auch wenn nur noch eine schmale Sonnensichel übrig ist, strahlt die Sonne hier mit unverminderter Helligkeit und könnte schwere Netzhautschäden verursachen. In den Wartezimmern der Augenärzte herrscht nach Sonnenfinsternissen oft Hochbetrieb. Man sollte auf gar keinen Fall mit ungeschützten Augen in die Sonne schauen, natürlich erst recht nicht mit dem Feldstecher.
Es werden vielfach Schutzbrillen mit einer metallbedampften Folie angeboten, durch die man ungestraft schauen kann. Es gibt zwar auch einfachere Mittel, zum Beispiel zwei aufeinandergeklebte schwarze Dias – wie sie immer nach der Entwicklung eines Diafilms an seinem Anfang oder Ende anfallen – doch bieten sie keinen sicheren Schutz, man sollte damit nur kurz in die Sonne schauen. Im übrigen reicht auch ein kurzer Blick, um zu sehen, wie weit der Mond inzwischen vor die Sonne gewandert ist.
Völlig unzureichend ist eine normale Sonnenbrille. Sie dämpft das Licht in einer sonnenbeschienenen Landschaft, für die Sonne selbst müßte sie vieltausendmal dunkler sein.
Durch einen Feldstecher dürfen Sie auch nicht mit Schutzbrille zur Sonne schauen: Die konzentrierte Sonnenwärme könnte ein Loch in die Folie brennen, und im gleichen Moment trifft die geballte Sonnenglut auf ihre Netzhaut.
Der Mond ist keine glatte Kugel, er hat Tiefebenen und Gebirge, Täler und Bergspitzen. Wenn der glatte Sonnenrand hinter dieser buckligen Mondkante versinkt, blitzt die Sonne zuletzt noch aus einigen Mondtälern heraus. Die letzten Sonnenstrahlen liegen wie Perlen auf einer Kette aufgereiht um ein Stück Mond herum: Nur einen kurzen Moment lang leuchtet die “Perlschnur” auf – ein bezaubernder Anblick, den man nicht versäumen sollte.
Einen Sekundenbruchteil später erlischt die letzte Sonnenperle an der linken Seite des Mondes. Im gleichen Moment ist es dunkel. Nun ist keinerlei Augenschutz mehr nötig – mit ihm würde man auch nichts sehen von dem grandiosen Anblick, den der Himmel nun bietet, den Sie mit bloßem Auge und sogar mit dem Feldstecher bewundern können: Wo gerade noch die Sonne vom Himmel leuchtete, steht eine pechschwarze Scheibe, umgeben vom silbrig schimmernden Glorienschein der Korona. An seinem inneren Rand sieht man die roten Flammenzungen der Protuberanzen: Hier schießen gigantische Wasserstoff-Fontänen aus der Sonne hoch.
Die totale Verfinsterung dauert im Zentrum des Streifens bei Stuttgart 2 Minuten 17 Sekunden, bei München 2 Minuten 19 Sekunden, bei Salzburg 2 Minuten 21 Sekunden. Mit zunehmender Entfernung von der Zentrallinie wird die Dauer der Totalität kürzer.
Nun blitzt an der rechten Seite des Mondes der erste Sonnenstrahl wieder auf – etwa da, wo beim 1. Kontakt der Mond die Sonne zum ersten Mal berührte.
Nicht nur am Himmel, auch auf der Erde sind erstaunliche Phänomene zu beobachten. Während sich der Mond allmählich vor die Sonne schiebt, wird es merklich kühler, die Temperatur sinkt fast gleichmäßig um rund sechs Grad ab. Durch den Temperaturunterschied wird es auch windig.
Interessant ist vor allem, die Tiere in der Umgebung zu beobachten. Viele verhalten sich ganz ähnlich wie am späten Abend, doch sie spüren wohl, daß die Dämmerung zu früh und zu schnell kommt. Die Unstimmigkeit mit ihrer “inneren Uhr” läßt sie unruhig werden, und der erste Strahl der Sonne nach rund zwei Minuten bringt sie erst recht aus dem gewohnten Rhythmus.
An der Universität Hohenheim in Stuttgart werden im “Fachgebiet Nutztierethologie und Kleintierzucht” unter der Leitung von Prof. Werner Bessei zahlreiche Experimente und Programme für den 11. August vorbereitet, um die Reaktionen der Tiere auf die überraschende Mittagsnacht umfassend wissenschaftlich zu beobachten, zu filmen und zu dokumentieren – eine willkommene Gelegenheit für die Forscher, Tierverhalten unter Bedingungen zu studieren, wie sie sonst nie gegeben sind.
Als Vorversuche für den 11. August wurde die künstliche Beleuchtung exakt nach der Helligkeitskurve der Finsternis gesteuert. Die Tiere verhalten sich nach ersten Auswertungen ähnlich wie am Abend, doch das Wiederhellwerden bringt sie offensichtlich aus dem althergewohnten Konzept. Mit Spannung warten die Forscher darauf, welche Wirkungen das natürliche Ereignis der totalen Sonnenfinsternis in der freien Natur auf Tiere hat, im Vergleich zu der mit raffinierter Beleuchtungstechnik im geschlossenen Raum imitierten “Zwischennacht”.
Für viele Beobachter ist die Zeit zu kostbar, um sich dem Studium der Tierwelt zu widmen. Die Hauptblickrichtung aller Finsternisbesucher ist die Schwarze Sonne am Firmament. Wie dunkel es wird, läßt sich schwer voraussagen. Auf jeden Fall sollte die Dunkelheit ausreichen, daß wenigstens die helleren Sterne des Himmels zu sehen sind, zum Beispiel Arkturus, Hauptstern des “Bärentreibers” Bootes, und Capella, der hellste Stern im Fuhrmann. In direkter Sonnenumgebung findet man auf jeden Fall die helle Venus links unterhalb der Sonne und den Merkur etwas weiter rechts oberhalb von ihr.
Zwei erfahrene Finsternis-Jäger, der Astrophysiker Prof. Rudolf Kippenhahn und der bdw-Redakteur für Astronomie Wolfram Knapp, erzählen in diesem Buch, wie Finsternisse entstehen, wie sie in grauer Vorzeit vorhergesagt wurden, wie sie am Rad der Weltgeschichte drehten – und was Sie für den Venus wird meist schon lange vor Eintritt der Totalität als erster “Stern” am immer dunkler werdenden Himmel sichtbar.
Der Merkur zieht die Aufmerksamkeit mancher Beobachter oft viel mehr auf sich als die Venus. Er ist der innerste Planet unseres Sonnensystems und steht immer so nah bei der Sonne, daß man ihn nur selten sehen kann, und dann auch nur in der noch hellen Dämmerung. Die meisten Menschen haben ihn noch nie gesehen – und da sind sie in guter Gesellschaft: Selbst der berühmte Vater unseres modernen Weltbildes, Nikolaus Kopernikus, soll auf dem Totenbett noch bedauert haben, daß er nie den Merkur gesehen hat.
Viele wollen das faszinierende Himmelsschauspiel im Foto festhalten. Dazu braucht man keine astronomische Ausrüstung, etwa ein teures Teleskop. Ein normaler Fotoapparat ist ausreichend, falls sich Belichtungszeit und Blende von Hand einstellen lassen, denn bei der totalen Sonnenfinsternis gibt es nicht die eine “richtige” Belichtung, die eine Automatik einstellen würde. Außerdem braucht man ein Tele mit möglichst langer Brennweite, denn die Sonne am Himmel ist winzig klein. Die Faustformel dazu: Brennweite geteilt durch 100 ist die Größe von Sonne (und Mond) auf dem Film in Millimetern. Mit einem 400er Tele erhält man also ein vier Millimeter großes Sonnenbildchen.
Ein paar Richtwerte für die Belichtung (in Sekunden) bei Blende 5,6 und einem Film mit 64 ASA Empfindlichkeit: Protuberanzen: 1/100 innere Korona: 1/20 äußere Korona: 1
Es ist also sinnvoll, eine Bildserie zu schießen, von der kürzesten bis zur längsten einstellbaren Belichtung bei offener Blende. So erhält man Bilder von der inneren, rot leuchtenden “Chromosphäre” bis zur voll ausgeprägten Korona.
Ein Stativ ist sehr nützlich. Aus freier Hand würde zum einen das Fotografieren mehr Zeit beanspruchen – die total verfinsterten Minuten sind kostbar! – und zum anderen geht es um Belichtungen bis zu einer Sekunde. Länger sollte man nicht belichten, weil dann durch die Bewegung der Schwarzen Sonne am Himmel der Kreis bereits zu einem deutlichen Oval verschmiert wird.
Spannend wird es, wenn die Sonne kurz vor dem 2. Kontakt wegschmilzt. Jetzt, in den letzten Sekunden vor der totalen Finsternis, sollte man auch einen Blick nach Westen werfen: Mit mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit kommt der Schatten angerast – wie eine riesige dunkle Gewitterwand, von der man überrannt zu werden droht. Mancher hat darüber schon die Perlschnur verpaßt. Die Ereignisse überschlagen sich nun: Sie möchten den Schatten sehen, wie er heranbraust. Sie möchten die Perlschnur sehen, brauchen dazu aber ein Schutzglas vor den Augen. Sie wollen die Perlschnur mit einem Foto erwischen, dazu müssen Sie Ihren Fotoapparat blitzschnell bedienen. Sie wollen vielleicht den spannenden Moment gemeinsam mit einem Freund, einer Freundin oder sonst Nahestehenden genießen.
Es ist furchtbar aufregend, vielleicht starren Sie nur gebannt zum Himmel und vergessen die ganze Welt um sich, um den Strahlenkranz der Korona aufleuchten zu sehen. Nun ist die große Zeit für die vielleicht kostbarsten Fotos gekommen, die Sie in Ihrem Leben machen. Kein Karlsruher, Stuttgarter, Münchner oder Salzburger wird eine solch faszinierend finstere Zeit wie die am 11. August 1999 noch einmal zu Hause erleben.
Etwas Ähnliches wie vor Beginn der totalen Verfinsterung ereignet sich an ihrem Ende: An der rechten Seite erscheint die Sonne plötzlich wieder in Form eines ersten Lichtblitzes am tiefsten Einschnitt am Mondrand. Unmittelbar danach gesellen sich daneben noch ein paar Lichtblitze dazu. Doch nach aller Erfahrung denkt jetzt kaum noch jemand ans Fotografieren. Fast jeder ist erfüllt von dem wundervollen Erlebnis, und oft beschließt ein Freudenfest das große Ereignis.
Wolfram Knapp