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Titelthema – Einsteins Geniestreich: Ein Wissenschaftler spricht

Allgemein

Titelthema – Einsteins Geniestreich: Ein Wissenschaftler spricht
Stephen Hawking in Potsdam. Wie der berühmteste lebende Physiker aus einem Fachkongreß ein Medienereignis macht.

Was ist los? Im sonst eher verschlafenen Potsdam reißen sich fünf Fernsehgesellschaften um exklusive Übertragungsrechte, Journalisten drängen sich im Presseraum der Universität. Es findet eine Weltkonferenz statt: “Strings 99”, mit exotischen Vorträgen, etwa zu “Yang-Mills Integralen”, “TBS” oder zu “Non-BPS Dirichlet Branes”. 400 Theoretische Physiker aus aller Welt haben sich versammelt, um wie alle Jahre ihre neuesten Erkenntnisse auf höchst abstraktem Niveau auszutauschen. Schlagzeilen von der “Weltformel” machen die Runde. Was ist los? Ein bekannter deutscher Physiker beklagt sich beim offiziellen Empfang über das mangelnde Interesse der Deutschen für Wissenschaft und Technik. Am nächsten Mittag wächst innerhalb einer Stunde vor einem Nebengebäude der Universität eine Menschenschlange Hunderte Meter durch den Schloßpark von Sanssouci. Die Leute warten auf eine Eintrittskarte für das Audimax, obwohl sie längst wissen, daß sie nicht mehr hineinpassen. Ein Wissenschaftler spricht. Er forscht als Astrophysiker über Dinge, die wir nie berühren können. Doch er fesselt mit seinen Büchern, Vorträgen und Interviews die Menschen wie ein Rattenfänger: Der britische Physiker Stephen Hawking. Monatelang wurde sein Kommen vorbereitet, denn Hawking ist schwerst behindert. Durch den Muskelschwund ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) sitzt er bewegungsunfähig im Rollstuhl, kann lediglich mit zwei Fingern einen Spezialcomputer bedienen, über den er sich mit seiner Umgebung verständigt. Das Foto von einem körperlichen Wrack, in dem einer der herausragenden Denker unserer Zeit steckt, geht wie ein Denkmal durch die Gazetten. Journalisten feiern ihn als den “neuen Einstein”. Kritiker werfen ihm vor, er vermarkte seine Krankheit. Doch wer ihm begegnet, spürt bald, daß dies nicht der Grund sein kann, weshalb dieser Wissenschaftler Menschen so fasziniert.

Das Geheimnis des Stephen Hawking ist seine Persönlichkeit. Er will leben wie die anderen auch. Er ist gesellig, spricht gern mit Kollegen, noch lieber aber mit hübschen Damen, die er trotz ihrer Ehrfurcht in eine charmante Plauderei verwickelt. Vor allem aber liebt er Musik, fast mehr als die Physik. Die Batterien seines Rollstuhls, für ihn unentbehrliche Quelle minimaler Freiheiten, hat er nach Helden aus Wagner-Opern benannt. Seine zwanglosen Unterhaltungen beim Empfang in den Neuen Kammern des Schlosses Sanssoucci sind ein Triumph des Willens. Auf dem Bildschirm sucht er aus dem alphabetisch geordneten Wortschatz seines Computers die Wörter aus, die er schreiben will. Er duldet keinen Telegrammstil, jedes Genitiv-s wird korrekt angehängt, jeder Artikel vorgesetzt, nur wenige Formulierungen sind vorab gespeichert. Oft dauert es fünf Minuten, bis ein Satz fertig ist. Jeder Versuch eines ungeduldigen Gesprächspartners, schon vorab zu antworten, wenn sich der Sinn abzeichnet, ist vergeblich: Hawking führt seinen Satz zu Ende, so perfekt formuliert, daß überall Geist und Witz herausblitzen.

Die Organisatoren der Konferenz am Potsdamer Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik wurden vom Medienecho auf den Besuch Hawkings ziemlich überrascht. Ihr Star heißt eigentlich nicht Stephen Hawking, sondern Edward Witten. Sein Spitzname ist “Gottvater”. Der Physiker am Institute for Advanced Studies in Princeton hat die neueste Fassung der String-Theorie formuliert, aus der sich die Forscher die “Weltformel” erhoffen: die eine, alle Kräfte und Bausteine der Natur vereinende physikalische Theorie, die das Universum erklärt – von den makroskopischen Dimensionen der Galaxien bis zu den winzigen Größen der Quanten, von den stärksten Kräften im Atomkern bis zur schwächsten Kraft, der Gravitation. Am Schlußtag der Konferenz spricht neben “Gottvater” Edward Witten auch Stephen Hawking – der daneben eindeutig zum “Jesus Christ Superstar” wird. 400 Menschen passen in den größten Hörsaal, das Audimax, 600 weitere Plätze wurden in anderen Hörsälen per Fernsehen zugeschaltet. Doch die Räume der Universität Potsdam sind zu klein: Über 1000 Menschen stehen oder sitzen auf dem Rasen vor dem Gebäude und lauschen Hawking, als er von Urknall und Schwarzen Löchern erzählt und von den Geheimnissen der Gravitation. Stephen Hawking ruft seine Sätze aus dem Computerspeicher ab. Der Sprachsynthesizer setzt sie in eine knarrende, monotone Sprache um. Und dennoch wird niemand schläfrig: Hawking zieht Vergleiche zur Alltagserfahrung, zeigt jedem, daß auch er auf diese Gedanken hätte kommen können. Abstrakte Wissenschaft als logisches Puzzlespiel. So exakt kann nur formulieren, wer mit seinen Sätzen haushalten muß. Begeisterungsstürme der Zuhörer. Hunderte stehen an den Absperrgittern, um einen Blick auf den großen Physiker zu erhaschen, als er in sein Auto rollt. Der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen ist ganz erstaunt über den Verkehrsstau in Potsdam am Samstagnachmittag – da hat doch nur ein Wissenschaftler gesprochen. Und manche deutsche Forscher wundern sich noch mehr, warum sich nur wenige Menschen dafür interessieren, was sie ihnen über Wissenschaft beibringen möchten.

Reiner Korbmann / Stephen Hawking

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