Der Raum ist kahl, neutral beleuchtet, gesichtslos. Nichts soll ablenken. Die hier ihrer Arbeit nachgehen, sitzen an einem langen Tisch aufgereiht, die Plätze durch kleine Milchglasscheiben voneinander getrennt. Geredet wird nicht – das würde die Konzentration stören.
Jeder führt zwei kleine Gläschen abwechselnd zur Nase und zieht dabei tief die Luft ein. Auch aus größerer Distanz wird noch einige Sekunden lang geschnuppert. Anschließend gehen die Tester direkt zur Sache: Mit entrücktem Blick kosten sie, sorgsam abwägend, vom Inhalt ihrer zwei Gläschen.
Mit Prüfritualen dieser Art erkundet die Lebensmittelindustrie die Güte von Kräutermischungen, Kaffeepulver und Streichkäse. Im direkten Vergleich von zwei oder drei Proben können Menschen mit Hilfe ihres Geruchssinns und ihrer Geschmacksnerven eventuelle Abweichungen vom gewünschten Qualitätsniveau erkennen.
Doch inzwischen bekommen die Prüfer Konkurrenz: Erste Geräte sind auf dem Markt, die Geruchsstoffe “riechen” können – elektronische Nasen.
Die Kulmbacher Firma Raps stellt Gewürzmischungen her und verkauft sie unter anderem an Metzgereien und Nahrungsmittelhersteller. Nun hat sie sich ein Schnüffel-Gerät zugelegt und prüft seine Einsatzmöglichkeiten. Der Lebensmittel-Weltkonzern Nestlé kann gar eine Eigenentwicklung vorweisen. Im Routinebetrieb wird die elektronische Nase noch nicht verwendet, aber in ein bis zwei Jahren will das Unternehmen so weit sein, außer Menschen auch Automaten schnuppern zu lassen.
“Bisher muß eine Lebensmittelprobe noch von fünf bis zehn geschulten Personen untersucht werden, um für eine Beurteilung ein reproduzierbares Ergebnis zu erhalten”, erklärt Dr. Klaus Rieblinger vom Fraunhofer-Institut für Lebensmitteltechnologie und Verpakkung in Freising. “Hinzu kommt, daß die menschliche Nase nur begrenzte Aufnahmefähigkeit hat.
Wenn viele unterschiedliche Gerüche auf sie einwirken, wird sie nach kurzer Zeit unsensibel.”
Das macht die “humansensorische Qualitätsprüfung”, wie das urteilende Schnüffeln im Fachjargon heißt, aufwendig und teuer. Mehr als Stichproben sind nicht möglich. Auch mit gängigen apparativ-chemischen Analyseverfahren – etwa der Gas-Chromatographie und der Massenspektrometrie – lassen sich Lebensmittel kaum kontinuierlich kontrollieren.
Kein Wunder also, daß Unternehmen der Lebensmittelbranche brennend an Geruchsgeräten interessiert sind. Aber auch andere: die pharmazeutische Industrie einschließlich der Kosmetikfirmen, die Automobilhersteller, die Bauindustrie und der Umweltschutz. Ein halbes Dutzend kommerzielle Anbieter von elektronischen Nasen gibt es derzeit in Europa. Bei Stückpreisen zwischen 80000 und 100000 Mark hat allein die britische Firma Aroma Scan in den ersten anderthalb Jahren ihres Bestehens weltweit 170 Geräte ausgeliefert.
Äußerlich haben solche Geräte mit einer Nase noch weniger gemein als eine Kamera mit einem menschlichen Auge. Von der Größe einer Kommode, sehen sie aus wie x-beliebige Geräte, die in der Analytik chemischer Stoffe eingesetzt werden. Was sie auszeichnet, ist eine meist unscheinbare Anordnung von Meßfühlern, an deren sensitiver Oberfläche gasförmige Duftmoleküle andokken können.
Jeder dieser Sensoren spricht in unterschiedlichem Maße auf einen Duftstoff an: Während etwa die Nummern 3 und 4 einer Reihe von acht Sensoren auf den Stoff Menthol – Hauptbestandteil des Pfefferminzöls – sehr stark reagieren, “riecht” Sensor Nummer 2 ihn nur schwach, und die anderen Meßfühler ignorieren ihn völlig. Dementsprechend werden vom Sensor 3 und 4 starke Signale gemeldet und von Sensor 2 ein schwächeres.
So entsteht ein Signalmuster, das für Menthol typisch ist. Wie das Muster aussieht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie schnell die Sensoren auf den Kontakt mit den Duftmolekülen reagieren und wie lange die “Andockphase” dauert.
Weil sich Gerüche aber meist aus komplexen Mischungen verschiedener Duftstoffe zusammensetzen und Duftmoleküle chemische Ähnlichkeiten aufweisen, ist die Welt der Gerüche für elektronische Nasen nicht einfach zu erfassen. Während die Nase eines erfahrenen Testers Tausende von Geruchsnoten aus einem breiten Duftspektrum charakterisieren kann, muß ihr künstliches Pendant für bestimmte Aufgaben maßgeschneidert werden.
“Es wäre unseriös, zu versprechen, eine elektronische Nase funktioniere, ohne sie speziell dem Anwendungsbereich anzupassen”, findet Dr. Hanns-Erik Endres vom Fraunhofer-Institut für Festkörpertechnologie in München. “Der Käufer eines VW-Polos erwartet schließlich auch nicht, daß man diesen als Transportfahrzeug für drei Tonnen Kohle benutzen kann.”
Für das Funktionieren der elektronischen Nasen müssen verschiedenartigste Sensor-Typen sorgen: Polymere und Metalloxide verändern charakteristisch ihre Leitfähigkeit, wenn sich Gasmoleküle auf ihrer Oberfläche anlagern. Auf diesem Prinzip beruhen die meisten Sensoren. Ein Quarzkristall, der in einen elektrischen Schwingkreis integriert ist, wird mit gasempfindlichen Materialien beschichtet. Bestimmte Geruchsmoleküle reagieren mit diesen Schichten, wodurch sich die Masse des Quarzes und die Frequenz seiner Schwingungen verändert. Glasfasern, die mit Farbstoffen versehen sind, verändern bei der Reaktion mit Duftstoffen ihre Leuchteigenschaften. Ein Bimetall – zusammengesetzt aus zwei verschiedenen Metall-Lagen – wird zum Sensor, wenn man es mit gasempfindlichen Substanzen überzieht: Es biegt sich minimal, wenn “seine” Geruchsmoleküle andocken – aufgrund kleinster Wärmemengen, die seine Beschichtung bei der Reaktion mit dem Gas freisetzt. Das mit bloßem Auge nicht erkennbare Verbiegen kann gemessen werden, wie Wissenschaftler vom IBM-Forschungsinstitut im Schweizer Rüschlikon gezeigt haben. Sie arbeiten daran, dieses Prinzip auch für eine elektronische Nase zu erschließen.
Verfeinerte Sensortechnik und neue Meßprinzipien sind aber nicht der einzige Grund für die großen Fortschritte beim apparativen Schnüffeln. Wesent- lichen Anteil hat die Computertechno- logie: “Ein mehrdimensionales Signal, wie es von der Sensoranordnung einer elektronischen Nase erzeugt wird, ist schwierig zu verarbeiten”, verrät Dr. Gerhard Horner, Geschäftsführer des deutschen Herstellers HKR Sensorsysteme in München.
“Doch künstliche neuronale Netze erlauben es inzwischen auch jemandem, der nicht Mathematik und Statistik studiert hat, diese Signalmuster zu interpretieren.”
Im Gegensatz zu Horner, der bei Sensoren ausschließlich auf die Schwingquarz-Technologie setzt, führen Tübinger Wissenschaftler die unterschiedlichen Arten von Meßfühlern in einem Gerät zusammen. “Mit einem einzigen Sensortyp ist es uns nicht gelungen, Rohkaffeesorten eindeutig zu charakterisieren. Das änderte sich erst, als wir verschiedene Meßfühlerarten kombinierten”, erläutert Dr. Udo Weimar vom Institut für physikalische und theoretische Chemie der Universität Tübingen das Konzept.
Das System, MOSES benannt, ist modular aufgebaut. Der Anwender kann eine Sensoranordnung im Handumdrehen entfernen und eine andere, vielleicht besser geeignete einschieben. So wird “der Anwendungsbereich der elektronischen Nase weiter aufgespannt”, glaubt Weimar.
Auf ein weit gespanntes Spektrum von teils sogar gefährlichen Substanzen müssen die Produktionsstätten der chemischen Industrie gefaßt sein. Die Idee scheint naheliegend, hier breitbandige elektronische Nasen als Frühwarnsystem einzusetzen.
Doch die Bayer AG will auf die feinen Nasen menschlicher Spezialisten nicht verzichten: “Luftspürer” patrouillieren mit dem Rad übers Werksgelände und erschnüffeln – so eine Firmenpublikation – “schneller als die modernsten Meßgeräte, wenn bei Bayer und Umgebung etwas in der Luft liegt”.
Die meisten Experten meinen, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird und elektronische Nasen in der Umweltanalytik rasch an ihre Grenzen stoßen – mit Ausnahmen: “Sensoren arbeiten um so besser, je höher die Konzentrationen der nachzuweisenden Gase sind”, sagt Fraunhofer-Forscher Dr. Hanns-Erik Endres.
“Daher sind elektronische Nasen vielversprechend für die Überprüfung der Luft in geschlossenen Räumen, etwa in Gebäuden oder Fahrzeugen.”
Unisono erklären die Anbieter der Schnüffelgeräte, häufig Anfragen aus der Kraftfahrzeug-Branche zu erhalten. Der Geruch von Teilen der Innenausstattung – etwa von Armaturen und Polstern – wird mehr und mehr zum Qualitätskriterium. Der Geruch kann den Hersteller warnen, daß potentiell gesundheitsschädliche Stoffe in den Fahrzeuginnenraum entweichen. Auch die Käufernase registriert das Innenraum-Aroma: Manche Gerüche, die früher als typisch für neue Autos galten, sind heute unerwünscht – andere vermitteln das begehrte “Nagelneu”- Gefühl.
Aber nicht nur irdische Innenräume werden beschnüffelt. Die europäische Raumfahrtagentur ESA nahm die elektronische Nase “QMB 6”, entwickelt von HKR Sensorsysteme, mit auf die Euromir-95-Mission – hierzulande vor allem durch die Teilnahme des Deutschen Thomas Reiter bekanntgeworden. Die Astronauten unternahmen während des Fluges auch Experimente, bei denen gasförmige Stoffe freigesetzt wurden. QMB 6 protokollierte stets die Zusammensetzung der Kabinenatmosphäre.
“Die ESA hat unser Sensorsystem vor allem wegen der geplanten Columbus-Mission getestet. Teil dieser Mission ist ein Weltraumlabor, das manchmal bis zu einem halben Jahr unbemannt gelassen werden soll”, erklärt der HKR-Geschäftsführer Horner. “Damit die Astronauten das Labor nach längerer Abwesenheit ungefährdet betreten können, muß die Luft zuvor auf Verunreinigungen geprüft worden sein.”
Eine künstliche Nase im Weltraum: Utopisch anmutende Ideen können Wirklichkeit werden. Doch manch andere Vorstellung siedelt wohl auch weiterhin im Reich der Phantasie: etwa die, einen Markierungsduft als Diebstahlsicherung für Waren zu benutzen – in Kombination mit elektronischen Nasen an den Türen.
Auch die angebliche Eignung solcher Geräte als Drogen- oder Sprengstoff-Schnüffler gilt unter den meisten Wissenschaftlern eher als Duftspur, die von Marketing-Leuten der Anbieter gelegt wurde.
Es sei nicht klug, mahnt Gerhard Horner, den Mund zu voll zu nehmen: “Tragisch wird es, wenn Kunden die gesamte Technologie für immer verdammen, weil bei ihnen einmal zu hohe Erwartungen geweckt und dann nicht erfüllt wurden.”
Daß manchmal trotzdem der zweite Schritt vor dem ersten gemacht wird, zeigen Überlegungen von Paul E. Keller vom Pacific Northwest National Laboratory, einer staatlichen Großforschungs-einrichtung der USA. Während in Deutschland noch getestet wird, ob elektronische Nasen vielleicht einmal Stoffwechsel-Erkrankungen in der Atemluft eines Patienten erschnüffeln könnten, geht Keller – ganz Bürger im Land der unbegrenzten Möglichkeiten – bereits erheblich weiter.
Eine solche Nase, so Keller, könnte als Schlüsselkomponente eines teleme- dizinischen Systems dienen. Er schlägt vor, via Computer und Datenleitung nicht nur Töne und Bilder, sondern auch Gerüche von einem Krankenhaus zum anderen zu übertragen. Skurril? Keller begründet: “Der Geruchssinn ist für den Arzt und den Chirurgen von großer Bedeutung.”
Frank Frick