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Schiefes Bild

Allgemein

Schiefes Bild
Lernen von den Matrosen. Warum hängt ein Bild, das mit einer Schnur an einem Nagel aufgehängt wird, einfach immer schief? Die Erklärung ist nicht einfach, aber die Abhilfe: die Schnur zweimal um den Nagel schlingen.

Paulchen Panther sah, daß das Bild schief hing. Das störte ihn, und er rückte es gerade. Doch dadurch geriet die Wasserfläche mit dem Segelschiff auf dem Bild in eine gefährliche Schieflage, ein Schwall von Wasser schwappte zur Seite, riß das Schiff mit sich fort und ergoß sich auf den Boden. Erschrocken drehte Paulchen das Bild zurück, bis sich das Wasser wieder beruhigt hatte.

An diese Szene aus dem Zeichentrickfilm wurde ich beim Aufhängen eines Bildes erinnert. Ich hatte auf der Rückseite des Rahmens links und rechts eine Schnur befestigt – ein Stück unter dem oberen Bildrand, um die Aufhängung möglichst hinter dem Bild zu verstecken. Geometrisch bildete die gespannte Schnur ein stumpfwinkliges Dreieck mit zwei gleichlangen Schenkeln: mit dem Nagel an der Wand als obere Ecke und der Verbindungslinie der Befestigungspunkte als gegenüberliegende Seite. Das wäre nicht der Rede wert, wäre mein Bild so hängengeblieben. Doch ein leichter Anstoß genügte, um es aus der erwünschten Lage in eine unerträgliche Schieflage rutschen zu lassen. Die horizontale Ausrichtung des Bildes war, im mechanischen Sinne, nicht so „ stabil”, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Akademisches Bilderaufhängen: Um das Problem besser durchschaubar zu machen, setze ich vorübergehend voraus, daß der Bilderrahmen nicht durch Reibung an der Wand in seiner Bewegung behindert werde, und die Schnur reibungsfrei über den Nagel gleiten könne. Die Erfahrung zeigt, daß die Natur sich leider nicht daran hält – wir werden es später korrigieren müssen.

Man muß nicht Physik studiert haben, um zu wissen, daß der Schwerpunkt des Bildes seine „stabile” Gleichgewichtslage im tiefstgelegenen Punkt findet, den er unter den gegebenen Umständen erreichen kann. Wenn kein Widerstand ihn hindert, liegt dieser Ort genau senkrecht unter dem Aufhängepunkt, dem Nagel. Denken wir uns die Schnur – entgegen den Annahmen – vorübergehend am Nagel festgehalten, kann das Bild eine vorläufige Gleichgewichtslage bei unverändertem Schnurdreieck durch reine Drehung um den Aufhängepunkt erreichen. Denken wir uns danach die Hemmung am Nagel aufgehoben, gleitet die Schnur unter laufender Veränderung des Schnurdreiecks über den Nagel. Dabei senkt sich der Schwerpunkt weiter, bis er seine endgültige Ruhelage erreicht. Diese Beschreibung ist gleichzeitig ein Programm für die Berechnung der Gleichgewichtslagen. Wir können von vornherein annehmen, daß sich der Schwerpunkt senkrecht unter dem Aufhängepunkt befindet. Die Schnur zwischen den beiden Befestigungspunkten P1 und P2 im Abstand 2e habe eine Länge L > 2e. Die Bezeichnung „e” deutet auf Exzentrizität hin. In der Tat zeichnet der Punkt A, wenn man ihn bei gegebener Exzentrizität und Schnurlänge alle möglichen Lagen durchlaufen läßt, eine Ellipse – die bekannte Schnurkonstruktion. Da die Winkel nur von Längenverhältnissen abhängen können, werden im folgenden alle Längen auf e normiert. Die Exzentrizität selbst wird dabei zu 1, die halbe Schnurlänge zu L/2e = p. Der Schwerpunkt S liegt auf der Mittelsenkrechten im auf e normierten Abstand d von der Strecke P1P2, der rechte Abschnitt AP2 der Schnur hat die Länge r, der Rest der Schnur daher die Länge 2p – r. Der für das Weitere entscheidende Abstand s des Schwerpunkts vom Aufhängepunkt ergibt sich durch Anwendung des Satzes von Pythagoras auf die rechtwinkligen Dreiecke, die in allgemeiner Lage des Bildes entstehen, wenn von A das Lot h auf P1P2 gefällt wird. Durch Vergleich von h 2 aus dem rechten und dem linken Dreieck folgt für den Abstand z des Fußpunkts des Lots von der Mitte z = p(p–r). Damit ergibt sich die Höhe des Dreiecks, h = √(p 2-1)(1-(p-r) 2) .Daraus schließt man auf s2 = z2 + (d+h) 2, was sich mit den Bedeutungen von z und h und den Abkürzungen f = s2 und x = (p–r) 2 ausführlich schreibt:

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Die Koordinate r (oder p – r) läßt sich an der Konfiguration abmessen. Durch Betrachtung der Grenzen für p und x findet man, daß immer p2 > 1 gilt und x = (p–r) 2 zwischen 0 und 1 liegt. Der Radikand der Wurzel ist also stets positiv. Die Gleichgewichtslagen x des Bildes beim Schwerpunktsabstand d und der Schnurlänge 2p findet man als Extrema von s (und daher von f = s2). Die waagerechte Lage x = 0 oder r = p ist für alle p und d eine Gleichgewichtslage. „Schiefe” Gleichgewichtslagen (x > 0) bestimmt man durch Nullsetzen der Ableitung von f nach x: df/dx = 1-d √(p2-1)/(1-x) = 0 mit der Lösung x = (p – r) 2 = 1 – d2 (p2 – 1).

Da x nicht negativ werden kann, existieren sie nur für p2 < 1 + 1/d2, das heißt, für (verhältnismäßig) kurze Schnur und/oder (verhältnismäßig) geringen Schwerpunktsabstand. Die Gleichgewichtslagen x > 0 sind immer „stabil” – soweit sie existieren – in dem Sinne, daß f (und daher s) in ihnen örtlich seinen größten Wert und der Schwerpunkt damit seine tiefste Lage annimmt. Man erkennt es am Vorzeichen der zweiten Ableitung: d2f/dx2= –1 /2d2 (p2 – 1 ) < 0. „Stabil” sind die symmetrischen Gleichgewichtslagen bei x = 0, wenn f = s2 bei x = 0 größer ist als in der Umgebung, das heißt wenn bei x = 0 die Ableitung df/dx = Das trifft für p2 > 1 + 1/d2, also für den entgegengesetzten Fall langer Schnur und/oder großen Schwerpunktsab-stands zu. Damit sind die Gleichgewichtslagen eines Bildes – bei reibungsfreier Lagerung der Schnur auf dem Nagel – bestimmt. Beim Überschreiten der Grenzkurve in der d2-p2-Parameterebene (Bild auf der linken Seite) von oben nach unten – was durch Verkleinern der Schnurlänge oder durch Anheben des Schwerpunkts oder durch beides geschehen kann – verzweigt sich die horizontale Gleichgewichtslage bei x = 0 in zwei stabile Schieflagen x > 0 links und rechts. Die mittlere Gleichgewichtslage gibt es zwar weiterhin, aber sie wird „labil”, das heißt empfindlich gegen Störungen, die dafür sorgen, daß das Bild aus dieser Lage auswandert. Die Stabilitätsgrenze läßt sich geometrisch deuten. Zur Veranschaulichung setze ich im folgenden die Stellen, an denen die Schnur befestigt ist, mit den beiden oberen Ecken des Bildes gleich. Dann hängt das Bild in der mittleren Lage stabil, solange der Winkel 2β , den die Schnur im Aufhängepunkt bildet, kleiner als der Winkel 2γ ist, den die Diagonalen des Bildes seitlich einschließen. Stabilität ist zum Beispiel für quadratische Bilder gewährleistet, wenn der Schnurwinkel 2β ein spitzer Winkel ist, das Schnurdreieck also mindestens so hoch ist wie das halbe Bild. Je breiter ein Bild ist, desto länger muß die Schnur sein, damit es gerade hängt. Das Viereck AP1SP2 bildet für die unsymmetrischen Gleichgewichtslagen ein konvexes Sehnenviereck, das einem Kreis einbeschrieben ist. Deshalb sind seine gegenüberliegenden Winkel Supplementwinkel, das heißt, sie ergänzen sich zu 180 Grad. Wenn die Schnur von ihren oberen Ecken ausgeht, hängen Bilder daher von der Stabilitätsgrenze an in Schieflagen, für die der Schnurwinkel im Aufhängepunkt gleich dem seitlichen Diagonalenwinkel des Bildes ist. Da die Aufhängepunkte bei gegebener Schnurlänge auf einer Ellipse liegen, können sie als Schnittpunkte der Ellipse mit dem erwähnten Kreis konstruiert werden.

Praktisches Bilderaufhängen: Verlassen wir das Paradies der Mathematik und wenden uns den Unzulänglichkeiten der physikalischen Wirklichkeit zu. Die „akademische” Theorie des Bilderaufhängens, in der Haftung oder Reibung außer acht bleiben, kann nur sehr unvollständig erklären, was man beim Aufhängen von Bildern wirklich beobachtet. Ohne diese Idealisierung zu kennen, würden wir aber ebensowenig verstehen, warum Bilder auf der Schnur manchmal schief hängen. Haft- oder Reibungskräfte gibt es zwischen Wand und Rahmen genauso wie zwischen Schnur und Nagel. Während Wandkontakt durch die Aufhängung ausgeschlossen werden kann, hat die Haftung der Schnur am Nagel (oder Wandhaken) unvermeidlich großen Einfluß auf die Lage des Bildes. Ohne das Haften am Nagel wären in der Ruhelage die Schnurkräfte auf beiden Seiten des Aufhängepunkts A gleich groß und deshalb auch die Winkel der Schnur rechts und links zur Senkrechten gleich, die A mit dem Schwerpunkt S verbindet. Die Haftung der Schnur ist nicht nur eine kleine Korrektur, sondern die Haftkraft kann mit dem Gewicht des Bildes vergleichbar sein und Gleichgewicht bei sehr unterschiedlichen Schnurwinkeln und Schnurkräften herstellen – weit weg von dem „akademischen” Gleichgewicht, das man unter Vernachlässigung der Haftung berechnet.

Das hat bei langer und bei kurzer Schnur verschiedene Gründe. Bei langer Schnur liegt es an dem verhältnismäßig großen Umschlingungswinkel am Nagel, mit dem die größtmögliche Haftkraft („Haftgrenze”) exponentiell anwächst. Bei kurzer Schnur ist zwar der Umschlingungswinkel am Nagel klein, aber die Zugkräfte in der Schnur werden um so größer, je flacher das Schnurdreieck ist. Um die großen Zugkräfte in der Schnur zu veranschaulichen, stellt man sich gern einen kleinen Vogel vor, der sich auf einer gespannten Freileitung niederläßt. Die kleine Last vergrößert die Spannkraft im Draht um ein Vielfaches des Vogelgewichts. Die einfache Vorstellung, daß ein Bild sich selbst zentriere, wenn man es mit einer Schnur aufhängt, scheitert also, wenn nicht – bei kurzer Schnur – an der Verzweigung der Gleichgewichtslage, so doch zuletzt am Haften der Schnur. Aus der Not läßt sich jedoch eine Tugend machen: Bringt man das Bild ins Lot und schlingt die Schnur ein- oder zweimal um den Nagel – wie der Matrose das Halteseil um den Poller, um sein Schiff an der Landungsbrücke festzuhalten –, sind es die Haftkräfte, die dafür sorgen, daß das Bild an seiner Stelle bleibt und nicht wieder schiefrutscht.

Wolfgang Bürger

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