Hätten wir Röntgenaugen, würden wir einen völlig anderen Sternenhimmel sehen: Der Mond wäre so lichtschwach, daß wir ihn sehr schwer finden könnten. Viele hundert Millionen Lichtjahre entfernte Sternsysteme dagegen strahlten auffallend hell.
Für Astronomen sind solche Unterschiede sehr reizvoll. Die Forscher bekommen zusätzliche Informationen, die ihnen zum Beispiel bei der Aufklärung von Sternexplosionen oder bei der Untersuchung Schwarzer Löcher helfen. Leicht ist es allerdings nicht, die Röntgenphotonen aus dem All nachzuweisen, denn sie durchdringen nicht die Erdatmosphäre – und mit unseren hypothetischen Röntgenaugen müßten wir über die Erdatmosphäre hinausfliegen, um den Röntgenhimmel zu sehen: Bei vielen Wechselwirkungen mit den Molekülen der Luft wird die Energie der Röntgenphotonen vollständig aufgezehrt – und das ist gut so für uns, denn unter ständigem Röntgenbeschuß hätte sich kein Leben entwickeln können.
Besonders erfolgreich war der im Sommer 1990 gestartete deutsche Röntgensatellit ROSAT. Zu den damals bekannten 5000 Röntgenquellen entdeckte er etwa 145000 neue. “ROSAT hat uns ein neues Bild des Himmels beschert”, resümiert der Leiter des Projekts, Prof. Joachim Trümper vom Max-Planck- Institut für Extraterrestrische Physik in Garching. ROSAT gilt als einer der erfolgreichsten Astronomiesatelliten.
Im Dezember 1998 stellten die Astronomen seinen Betrieb ein. Doch bald wird es Ersatz geben: Noch im Frühjahr 1999 soll der deutsche ROSAT-Nachfolger ABRIXAS starten. Die amerikanische Röntgensternwarte AXAF (Advanced X-ray Astrophysics Facility) kommt erst im August zum Zuge. Sie hat den Beinamen “CHANDRA” bekommen – zu Ehren des indisch-amerikanischen Physik-Nobelpreisträgers von 1983 Subrahmanyan Chandrasekhar (1910 bis 1995), der sich mit den Endstadien der Sternentwicklung beschäftigt hatte. Außerdem bedeutet CHANDRA im Sanskrit soviel wie Helligkeit oder Mond.
Dritter im Bunde wird Anfang 2000 das europäische Röntgenobservatorium XMM sein. “Die Aufgaben aller drei Forschungssatelliten werden sich ergänzen”, meint Prof. Trümper. Geplant sind sowohl Detailstudien schon bekannter Röntgenquellen als auch neue Himmelsdurchmusterungen in bislang noch unerforschten Teilen des Röntgenspektrums.
ROSAT sah am Himmel nur die sogenannte weiche Röntgenstrahlung, die von Teilchen mit Energien von 100 bis zu 2400 Elektronenvolt stammt. Zum Vergleich: Die Elektronen in einer Fernsehröhre haben etwa 20000 Elektronenvolt. Das energieärmere Röntgenlicht könnte man in Analogie zum sichtbaren Licht den “rötlichen” Bereich des Röntgenspektrums nennen. Der deutsche Kleinsatellit ABRIXAS – die Abkürzung steht für A Broad Band Imaging X-ray All-Sky Survey – wird das All zusätzlich in den “gelblichen” Farben des Röntgenlichts kartieren, die bis zu 10000mal energiereicher sind als die mit dem Auge sichtbaren Lichtteilchen.
Der wissenschaftliche Projektleiter Prof. Günther Hasinger vom Astrophysikalischen Institut Potsdam rechnet mit der Entdeckung von etwa 10000 neuen Röntgenquellen. Sie blieben bisher hinter Gas- und Staubwolken der Milchstraße verborgen, die für weiche Röntgenstrahlen undurchdringlich sind.
Die Astronomen erwarten, daß die meisten neuentdeckten Röntgenquellen Galaxien sind, in deren Zentrum Schwarze Löcher unvorstellbar große Energiemengen freisetzen. Die Detailstudien der Galaxienzentren bleiben den nachfolgenden neuen großen Röntgenobservatorien überlassen.
Die schärfsten Röntgenaugen wird CHANDRA haben. Der Satellit ist so groß wie ein vierstöckiges Haus und wird mit dem Space Shuttle in die Umlaufbahn gebracht. Das Teleskop besitzt einen Spiegeldurchmesser von 1,2 Metern (siehe Kasten “Wolter-Teleskope – spiegelnde Hülsen”). CHANDRA kann damit zehnmal feinere Details sehen als die Vorgänger, so Dr. Martin Weisskopf, zuständiger Projektwissenschaftler im Marshall-Raumflugzentrum der NASA.
Mit CHANDRA werden die Astronomen die heißen Gashüllen von vielen tausend Sternen unter die Lupe nehmen, die Überreste von Sternexplosionen in der Milchstraße, in den Magellanschen Wolken und im 2,4 Millionen Lichtjahre entfernten Andromeda-Nebel studieren sowie in die Kernbereiche weit entfernter Galaxien vordringen. Er wird noch Galaxien sehen können, deren Röntgenlicht hundertmal schwächer ist als das der von ROSAT gerade noch wahrgenommenen Objekte.
So detailreiche Falschfarbenbilder wie CHANDRA wird das europäische Weltraumobservatorium XMM (X-ray Multi Mirror) nicht liefern können. Seine Stärken liegen auf dem Gebiet der Spektroskopie im Röntgenlicht, sagt Dr. Anthony Peacock, Projektwissenschaftler im ESTEC-Forschungszentrum der europäischen Weltraumorganisation ESA. XMM ist der bislang größte in Europa gebaute Forschungssatellit. Er besitzt drei Spiegelteleskope von je 70 Zentimeter Durchmesser und 7,5 Meter Brennweite. Jedes Teleskop besteht aus 58 vergoldeten Nickelschalen. Sie gleichen großen Trichtern, die ineinandergestülpt sind. Gold reflektiert die Röntgenstrahlen besonders gut, noch besser ist nur das Edelmetall Iridium – aber das ist auch zehnmal teurer. Das Prinzip der Schachtelspiegel hatte sich bei ROSAT bewährt, doch ist deren Packungsdichte bei XMM 14mal höher. 60 Prozent der eintreffenden Röntgenphotonen können so zu den Detektoren gelenkt werden.
Die Astronomen erwarten, Galaxien im Röntgenlicht noch bis in Entfernungen von etwa 15 Milliarden Lichtjahren studieren zu können. Beobachtungen mit dem Hubble Weltraumteleskop und mit anderen Teleskopen weisen darauf hin, daß viele ferne Galaxien aktive Kerngebiete besitzen, aus denen elektrisch geladene Teilchen wie Dampf aus einem Überdruckventil schießen. Ihren Ursprung haben diese Überschallströme wahrscheinlich in mehrere Millionen Grad heißen Plasmascheiben, die mit Geschwindigkeiten von einigen Millionen Kilometern pro Stunde ein Schwarzes Loch umkreisen.
Vor fünf Jahren hat das Hubble-Weltraumteleskop erstmals die dunklen Außenbezirke einer mehrere Lichtjahre großen Plasmascheibe im Zentrum einer Galaxie fotografiert, die aus Gas- und Staubwolken bestehen. Spärlicher sind die Informationen über die den Schwarzen Löchern zugewandten Innenbereiche der “Feuerräder”. Sie gelten als die Quellen starker Röntgen- und Gammastrahlung, doch bislang war die Sehschärfe der Röntgenteleskope zu schlecht, um die “Vampirsterne” näher zu untersuchen, die alle Materie aus ihrer Umgebung aufsaugen.
XMM wird wegen seiner viel höheren Lichtsammelleistung Veränderungen der Strahlungsintensität innerhalb weniger tausendstel Sekunden messen können, die direkt aus den heißen Scheiben um die galaktischen Schwarzen Löcher stammt, und damit Aufschluß über die turbulenten Vorgänge in diesen Exoten des Alls geben. Und er wird mit einer tausendmal höheren Präzision als ROSAT die feinen Farb(Energie)unterschiede im Röntgenspektrum wahrnehmen, die – ähnlich wie die Spektralanalyse im sichtbaren Licht – Informationen über die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Röntgenquellen enthalten. Die Astronomen erhoffen sich davon sichere Hinweise auf die Existenz Schwarzer Löcher.
Mit den Röntgenaugen von CHANDRA und XMM wollen die Astronomen auch die Räume zwischen den Galaxien studieren. ROSAT hatte hier Pionierarbeit geleistet und festgestellt, daß viele Galaxienhaufen von mehrere Millionen Lichtjahre ausgedehnten Hüllen dünnen Plasmas umgeben sind. Analysen sollen Aufschluß über die Bildung der Galaxienhaufen und die Masse der optisch unsichtbaren Materie geben.
Während die Wachablösung von ROSAT unmittelbar bevorsteht, konzipieren Wissenschaftler in den USA und Europa bereits die nächste Generation von Röntgenteleskopen, deren Sehschärfe nicht mehr hinter denen optischer Großteleskope zurückstehen soll. Bei einem Vergleich der Bildschärfe schneiden sie heute noch bis zu hundertmal schlechter ab. Das Constellation-X-Projekt der NASA sieht 2007 ein Teleskop für die Spektroskopie vor, das noch hundertmal schwächere Objekte wahrnehmen wird als die großen Röntgensternwarten, die jetzt gestartet werden sollen – und damit in die Nachbarschaft des Urknalls vordringen wird. Sechs einzelne im Weltraum stationierte Teleskope sollen zusammenmontiert soviel Röntgenlicht empfangen wie ein Zehn-Meter-Röntgenteleskop.
Im europäischen XEUS-Projekt ist nach dem Jahr 2010 ebenfalls ein Superteleskop mit maximal 10 Meter Spiegeldurchmesser und einer Länge von 50 Metern geplant. Gegenwärtig wird diskutiert, die internationale Raumstation als Werkstatt für den Anbau zusätzlicher Spiegelelemente zu nutzen. Ziel der Wissenschaftler ist es, mit den künftigen Röntgen-Großsternwarten die Entstehung von Galaxien in den ersten Millionen Jahren nach dem Urknall zu studieren. Bislang ist das noch eine Domäne der optischen Teleskope. Auch in puncto Sehschärfe sollen die Röntgensternwarten im All mit den Sternwarten auf der Erde gleichziehen.
Steckbrief der neuen Röntgensternwarten Abrixas (A Broad Band Imaging X-ray All-Sky Survey) Der ROSAT-Nachfolger, ein Winzling unter den Röntgensatelliten, ist nur 470 Kilogramm schwer und 2,5 Meter lang. Das Teleskop enthält sieben mit Gold beschichtete Spiegelsysteme von je 16 Zentimeter Durchmesser. Hauptaufgabe ist die Himmelskartierung im mittleren Röntgenbereich (0,5 bis 10 Kiloelektronenvolt). Ende April 1999 soll eine russische Rakete den Satelliten auf einen kreisförmigen Erdorbit mit einer Höhe von 580 Kilometer bringen. Vorgesehen ist eine Betriebsdauer von drei Jahren. Die Astronomen rechnen damit, daß ABRIXAS Tausende von neuen Röntgenquellen entdeckt, die hinter Gas- und Staubwolken der Milchstraße verborgen sind – und deshalb für ROSAT unsichtbar blieben, der nur Augen für “weiche” Röntgenstrahlung hatte. ABRIXAS ist ein deutsches Pilotprojekt für das Management künftiger wissenschaftlicher Kleinsatelliten. Es wurde 1994 ausgewählt. Die Gesamtkosten betrugen nur 40 Millionen Mark.
AXAF (Advanced X-ray Astrophysics Facility) Die kürzlich in “Chandra X-ray- Observatory” umbenannte Weltraumsternwarte der NASA ist fünf Tonnen schwer, 15 Meter lang und besitzt das mit 1,2 Meter Durch-messer größte jemals gefertigte Röntgenteleskop. Darin sind vier Spiegelsysteme integriert, die sehr detailreiche Bilder liefern sollen. An dem Projekt wird seit 15 Jahren gearbeitet. Es kostete bisher etwa zwei Milliarden US-Dollar. An der Entwicklung der Meßgeräte waren auch deutsche Forscher beteiligt. Der Start ist mit der US-Raumfähre Columbia für August 1999 geplant. CHANDRA soll in einen Erdorbit zwischen 10000 und 140000 Kilometer Höhe gelangen, der bis zu 48 Stunden lang ununterbrochen Beobachtungen erlaubt.
XMM (X-ray Multi Mirror) Der bislang größte europäische Forschungssatellit hat eine Masse von 3,5 Tonnen und ist fast 11 Meter lang. Sein Teleskop besteht aus drei Spiegelsystemen von je 70 Zentimeter Durchmesser. XMM soll sehr detailreiche Röntgenspektren liefern, die unter anderem Informationen über chemische Zusammensetzung und Temperatur von Weltraumobjekten enthalten. Es kann Röntgenphotonen im Energiebereich von 0,1 bis 10 Kiloelektronenvolt registrieren. Den 560 Millionen Mark teuren Satelliten soll im Januar 2000 eine Ariane-5-Rakete in eine langgestreckte Ellipse von bis zu 120000 Kilometer Erdabstand bringen. Das wird eine fortwährende Beobachtung von rund 40 Stunden pro Umlauf ermöglichen.
Wolter-Teleskope – spiegelnde Hülsen Die von ROSAT gefundenen Röntgengalaxien im fernen, noch jungen Universum werden das Forschungsziel der neuen Röntgensatelliten sein. Röntgenstrahlen haben sehr kurze Wellenlängen. Deshalb werden sie an glänzenden Flächen nur dann reflektiert, wenn sie in einem flachen Winkel auf die Spiegelfläche treffen. Röntgenteleskope bestehen deshalb aus ineinandergeschachtelten Spiegelhülsen – eine Idee, die 1952 der Physiker Hans Wolter von der Universität Kiel hatte, nach dem dieser Teleskop-Typ benannt ist. Die Röntgenstrahlen werden an der Innenseite der Hülsen nach innen gelenkt und in einem Brennpunkt gesammelt. Die spiegelnden Oberflächen müssen wegen der extrem kurzen Röntgenwellenlängen viel genauer sein als Spiegel für sichtbares Licht. Deshalb werden zur Veredelung der Spiegeloberfläche Beschichtungen aus Gold (ROSAT, ABRIXAS, XMM) oder mit dem Edelmetall Iridium (CHANDRA) eingesetzt. Die Abweichungen der Spiegeloberfläche von der Norm liegen bei einer Atomdicke. Als Spiegeldurchmesser solcher Röntgenteleskope gibt man den Durchmesser des äußersten Ringes an.
Galaxie Centaurus A Centaurus A, der Nebel mit der schwarzen Bauchbinde, ist die stärkste Radiogalaxie im Sternbild Centaurus. Das dunkle Band ist eine Scheibe aus Sternen, Gas und Staub, die das Licht aus den inneren Teilen der Galaxie absorbiert. Vermutlich handelt es sich um das Produkt einer Galaxien-Kollision. Das Objekt wurde in allen verfügbaren Wellenlängen untersucht, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen: Neben hochaufgelösten optischen Aufnahmen (1) gibt es Infrarotbilder (3 und der rote Streifen in 4), Radiokarten (die Linienstruktur in 4) und Röntgenbilder vom Forschungssatelliten ROSAT (2). Die Radio- und Röntgenstrahlung stammt vorwiegend aus einem Streifen, der senkrecht auf der “Bauchbinde” steht und wahrscheinlich seinen Ursprung in einem zentralen Schwarzen Riesenloch hat.
Uwe Seidenfaden