Raus auf den Marktplatz
Wissenschaft spielt in der deutschen Öffentlichkeit wieder eine Rolle. Prof. Joachim Treusch sieht darin eine historische Chance, den Forschungsabstand zu den USA zu verringern.
bild der wissenschaft: Die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard beklagte gegenüber bdw noch vor zwei Jahren mangelndes öffentliches Interesse an der Wissenschaft, oft einhergehend mit einer ausgesprochen wissenschaftsfeindlichen Einstellung. Sehen Sie das auch so, Herr Prof. Treusch?
Treusch: Ich kann das nicht bestätigen. Denn schon seit etlichen Jahren geht aus der Umfragestatistik hervor, dass die breite Bevölkerung nicht wissenschaftsfeindlich ist. Unkenntnis über die Wissenschaft gibt es vielleicht. Aber auch das hat sich in den letzten Jahren deutlich zum Besseren verändert. Dass Bundesministerin Bulmahn zur Jahrtausendwende die „Jahre der Wissenschaften” ins Leben rief, hat das Richtige bewirkt. Allein wenn man den Zuwachs der Wissenschaftsseiten in den Zeitungen oder die neuen wissenschaftsnahen Fernsehformate zu besten Sendezeiten betrachtet, ist das ein riesiger Erfolg.
bdw: Welchen Verdienst daran haben Wissenschaftler?
Treusch: Es gibt drei Ebenen: Wissenschaftler, Medien, Öffentlichkeit. Ich fange mit der engagierten Öffentlichkeit an. Unsere großen Veranstaltungen mobilisieren zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung einer Stadt, die mit der Wissenschaft direkt in Kontakt kommen. Bundesweit gesprochen ist das pro Jahr etwa ein Prozent der Bevölkerung. Das ist enorm. Die zweite Ebene bilden die Medien: Sie nehmen wahr, dass etwas passiert, was Beifall findet. Wissenschaftsredakteure haben plötzlich Erfolg, wenn sie ihrem Chef sagen: Da kommen 80000 Besucher, das müssen wir auf Seite eins bringen. Die Art der Schlagzeilen zu diesen Ereignissen hat sich in den letzten drei Jahren verändert.
bdw: Inwiefern?
Treusch: 2000, im Jahr der Physik, waren kritische Anmerkungen noch an der Tagesordnung – nach dem Motto: Biedert die Wissenschaft sich an? 2001, im Jahr der Lebenswissenschaften, machten Schlagzeilen Karriere wie: „Endlich darf man dumme Fragen stellen”. 2002, im Jahr der Geowissenschaften, titelte der ansonsten nüchterne Bremer Weserkurier: „Hansestadt im Rausch der Forschung”. Wenn das keine Bewusstseinsänderung in den Medien ist! Unschätzbar wichtig ist der Effekt auf der dritten Ebene, ausgelöst durch die Initia- tive der Wissenschaftsorganisationen, des Bundesforschungsministeriums BMBF und des Stifterverbandes. Bei den vielen öffentlichen Veranstaltungen haben die Wissenschaftler selbst bemerkt, dass es Spaß machen kann, sich auf dem Marktplatz zu präsentieren. Auch jene, die zu Beginn skeptisch blieben, waren anschließend enthusiastisch. Das ist eine phänomenale Änderung gegenüber früher. Man kann sie nicht hoch genug bewerten.
bdw: Doch was bleibt hängen? Es könnte ja auch sein, dass man die Veranstaltungen der Wissenschaft konsumiert wie einen Krämermarkt.
Treusch: Es ist in der Tat ungeheuer schwer, herauszufinden, wie sich das Bewusstsein des Einzelnen wirklich verändert hat. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen: Es ist eine immer wiederkehrende Botschaft solcher Veranstaltungen, dass das Publikum anschließend bemerkt, „Wissenschaftler sind nette Menschen”. Dieser Satz beinhaltet, dass man zuvor ein Vorurteil gepflegt hat, nach dem Motto: Die sind anders als wir.
bdw: Haben Sie den Überblick, wie viele Aktionen inzwischen pro Jahr in Deutschland stattfinden, um Wissenschaft populärer zu machen?
Treusch: Beim Jahr der Geowissenschaften haben wir mehr als 2500 Veranstaltungen registriert. Wir hatten etwa 950000 Besucher und 515 Millionen Leserkontakte – ermittelt nach den üblichen Presseregeln. Und das sind nur die Veranstaltungen im Rahmen des Jahres der Geowissenschaften. Alle anderen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten sind darin noch nicht enthalten.
bdw: Die Naturwissenschaften brauchen sich also nicht mehr über mangelnden öffentlichen Zuspruch zu beklagen?
Treusch: Wir sind auf gutem Weg, doch ganz zufrieden bin ich nicht. Es muss sich in der Politik noch mehr herumsprechen, dass sich Investitionen in die Wissenschaft mehr lohnen als Subventionen in andere Bereiche.
bdw: Sie haben ein Sparjahr einzulegen, das Ihrer Einrichtung, dem Forschungszentrum Jülich, einen besonderen Happen abnötigt.
Treusch: Wir in Jülich haben in diesem Jahr gegenüber 2002 nominal drei Prozent weniger zur Verfügung. Bei steigenden Gehältern und noch stärker steigenden Sozialversicherungsleistungen bedeutet das ein reales Minus von mehr als sechs Prozent. Wenn man die Förderanstrengungen bei anderen wissenschaftsstarken Ländern anschaut, handelt es sich hier um eine Art von Selbstverstümmelung. Die weltweit führende Forschungseinrichtung für Gesundheit, das NIH in den USA, verzeichnet derzeit jährliche Zuwachsraten von 15 bis 20 Prozent. Das heißt: Verdopplung innerhalb von vier bis fünf Jahren. Um andere namhafte amerikanische oder britische Forschungseinrichtungen steht es nicht viel schlechter. Ich bin der festen Überzeugung, dass die deutsche Politik es sich trotz der angespannten Finanzsituation leisten könnte, sich massiv für die Förderung der Wissenschaften auszusprechen. Wenn der Kanzler sagen würde: „In puncto Wissenschaft will ich die Amerikaner überholen. Das ist der einzige Weg, um Europa zukunftsfähig zu machen.”, könnte er sich einer breiten Zustimmung der Bevölkerung sicher sein.
bdw: Sie sind unzufrieden mit der Bundesregierung?
Treusch: So möchte ich das nicht formulieren. Immerhin hat Schröder in den ersten vier Jahren seiner Regierung den BMBF-Etat um 25 Prozent erhöht. Das hat die Regierung in den 16 Jahren davor nicht fertig gebracht. Dennoch haben wir im Augenblick eine Abwanderung der besten Köpfe ins Ausland – einen Brain-Drain wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein guter Doktorand bleibt nicht hier, denn wir können ihm keine echten Angebote machen. Der geht auch nicht zu Max-Planck oder in die deutsche Wirtschaft, sondern in die USA, in die Schweiz oder nach England – und dort in die Wissenschaft.
bdw: Gehälter und Ressourcen sind dort besser als hier. Sind das die einzigen Gründe abzuwandern – oder wollen junge Forscher einfach raus in die Welt, möglichst in die englischsprachige?
Treusch: Schon vor Jahren hatten bei uns in Jülich Nachwuchswissenschaftler nur dann die Chance auf eine feste Stelle, wenn sie zuvor mindestens ein, besser zwei Jahre im Ausland waren. Zur Wissenschaft gehört Mobilität. Doch jetzt können wir aufgrund der Kürzungen nicht einmal solchen Leuten eine Stelle anbieten.
bdw: Gilt das für die gesamte deutsche Forschungslandschaft?
Treusch: Kürzlich, bei einem Treffen der Spitzen unserer Wissenschaftsorganisationen und des Bundes der Deutschen Industrie, waren sich alle einig in der Einschätzung dieser Situation. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die meisten auch international erfahrenen Wissenschaftler, die in der öffentlich finanzierten deutschen Forschung angestellt sind, weniger Geld verdienen als ein Oberstudienrat. Auch die Gehälter der Institutsleiter sind international nicht konkurrenzfähig. Wie wir unter diesen Umständen Spitzenkräfte wie den deutschen Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle aus den USA zurückkriegen wollen, brauchen wir nicht zu überlegen.
bdw: Unser Staat ist in der Finanzklemme. Ist das nicht die Stunde der Privatleute, die in den USA erhebliche Mittel für die Wissenschaft locker machen?
Treusch: Ich warne davor, den Staat aus seiner Verantwortung für die Forschung zu entlassen. Forschung und Bildung sind langfristig wirksame Investitionen. Sie dürfen nicht kurzfristigen Interessen oder Haushaltssorgen geopfert werden. Die Forscher von heute sorgen für die Steuern von morgen. Das haben die angelsächsischen Länder inzwischen besser begriffen als wir. Man kann nur hoffen, dass alle mitmachen, wenn der Bundeskanzler sein Versprechen einlöst, den Forschungsetat im nächsten Jahr wieder um drei Prozent zu erhöhen.
bdw: Als eloquenter geachteter Wissenschaftsmanager werden Sie nicht müde, für die Forschung Pflöcke einzuschlagen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Forscher in Deutschland heute ähnlich klagen und zagen wie schon vor einem Jahrzehnt: Zu wenige Fördermittel, zu schlechte Bedingungen und Gehälter, eine immer größere Lücke zu den USA.
Treusch: Nicht Klage und Verzagtheit sind angesagt, sondern der öffentliche und deutliche Hinweis auf ein Problem, das alle betrifft. Wenn die Forschung erst einmal die internationale Konkurrenzfähigkeit verloren hat, müssen wir alle es teuer bezahlen. Dann hilft auch unverzagte Selbstzufriedenheit nicht mehr.
bdw: Also müssen die Wissenschaftler noch lauter um Akzeptanz werben?
Treusch: Das mit der Lautstärke ist so eine Sache. Wissenschaftler wägen ab und vertrauen auf die Qualität der Argumente und nicht auf die Lautstärke. Wenn man an diesem Verhalten etwas radikal verändern würde, hörten diese Menschen auf, Wissenschaftler zu sein. Nehmen Sie Craig Venter, der zwar lautstark behauptet hat, das menschliche Genom entschlüsselt zu haben, aber zur Zeit seiner Veröffentlichung etwas vorgegaukelt hat, das er damals noch nicht geschafft hatte. Das hat nicht nur ihn, sondern auch seine Fachdisziplin Glaubwürdigkeit gekostet. Nach der europäischen Wissenschaftskultur ist der Wissenschaftler nun mal kein Verkäufer, sondern ein Mensch, der seriös und abgewogen argumentiert.
bdw: Vorher fand es ihren Gefallen, wenn Forscher auf den Marktplatz gehen und dort ihre Arbeiten verkaufen. Warum nun dieser Rückzieher?
Treusch: Ich ziehe nichts von dem Gesagten zurück. Ich verweise nur darauf, dass es sich hier um einen heiklen Schritt handelt. Wer auf den Marktplatz geht, um für die Wissenschaft zu werben, muss laut genug sein, um gehört zu werden, und verständlich genug, um verstanden zu werden. Wer sich dabei jedoch als Marktschreier gebärdet, wird vielleicht Teile der Öffentlichkeit gewinnen, aber die Wissenschaftler selbst verlieren. Das kann nicht der Sinn von „Wissenschaft im Dialog” sein.Wir wollen die Menschen dort abholen, wo sie sind: vom Kindergarten bis zum Kaufhaus, von der Schule bis zur Politik. Wir wollen mit ihnen reden, ihnen auch zuhören und deutlich machen, dass Forschung für uns alle wichtig ist.
bdw: Neuerdings steigt die Zahl der Studienanfänger in Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften wieder an. Ist das ein erstes Ergebnis des verstärkten öffentlichen Engagements?
Treusch: Ganz eindeutig. Hochschulen, die beim Jahr der Physik oder beim Jahr der Geowissenschaften besonders aktiv waren, haben die Zahl der Anfänger in diesen Disziplinen verdoppeln können. Hochschulen, die weniger machten, verzeichnen dagegen nur 20 bis 25 Prozent Zuwachs.
Wolfgang Hess